Sonntag, Dezember 31, 2006

Wie US-Marines für den Kosovo-Einsatz gedrillt werden


Im Rahmen der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind seit vergangener Woche auch 2200 US-Marines im Kosovo im Einsatz. Wie werden die amerikanischen Elitesoldaten der 26. Expeditionseinheit auf ihre gefährliche Aufgabe vorbereitet? Die BaZ hat in einer Rekrutenschule in South Carolina einen Augenschein genommen.

Minen räumen, Flüchtlinge beschützen, Verwundete verarzten, Brücken und Strassen flicken, Transportwege erkunden und bei all diesen Aufgaben die eigene Sicherheit nicht vernachlässigen: Die Anforderungen an die Soldaten der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind hoch, weshalb nur die Besten geschickt werden. Mit von der Partie sind 2200 amerikanische Marines.

Von Peter Schibli, Parris Island

Dass die Elitesoldaten als erste US-Einheit in den Kosovo einmarschiert sind, ist kein Zufall. Marines sind eine Mischung aus Armee- und Navy-Angehörigen: Sie kämpfen sowohl zu Land als auch auf hoher See. Weil sie vorzugsweise zur Evakuierung von Zivilpersonen eingesetzt werden, nennt man sie auch «Amerikas 911» (Notfallnummer). Physische und psychische Härte, absoluter Gehorsam sowie die Bereitschaft, im Gefecht zu sterben, gehören zu ihren Markenzeichen.

Auf der Insel Parris Island, südlich der Stadt Charleston, werden Schulbuben und Schulmädchen in einer dreimonatigen RS zu Marines geschmiedet. Wer das 17. Altersjahr überschritten hat und auf die angenehmen Seiten des Zivillebens verzichten kann, ist willkommen.

Weitere Aufnahmebedingungen sind ein eiserner Wille sowie körperliche Fitness: Männer müssen mindestens zwei Klimmzüge und 44 Rumpfbeugen in 30 Sekunden absolvieren sowie 2,1 Kilometer in 13 Minuten laufen können. Von Frauen wird verlangt, dass sie zwölf Sekunden lang an beiden Armen hängen, in zwei Minuten 44 Rumpfbeugen hinlegen und in zehn Minuten 1,6 Kilometer weit laufen können. «Durch diese Türen schreiten die Anwärter für Amerikas edelste Streitmacht», heisst es über dem Portal des Aufnahmegebäudes. Stolz versichert der Kommandant den Besuchern: «Wir sind die allseits bereiten Wächter der Nation.» 97 Prozent der Rekruten kommen direkt von einer High-School nach Parris Island. Die wenigsten sind verheiratet. Für viele ist es die erste längere Trennung vom Elternhaus. Heimweh gehört zum Alltag.

Verlust der Identität

Auf den gelben Fusstritten vor dem Aufnahmegebäude merkt ein Rekrut sehr schnell, dass hier neue Regeln gelten: «Du bist nichts, kannst nichts. Wir machen einen Marine aus dir», schreit der Drill-Instruktor (DI). Ab sofort darf nicht mehr in der Ich-Form geredet werden. «Ich muss aufs Klo» heisst in der Marine-Sprache: «This recruit has to make a head-call.» Statt zum Essen geht man zum «Chow». Jeder Vorgesetzte wird mit «Sir» angesprochen.

Während der gesamten RS sind Radio und Fernsehen verboten. Zeitungen gibt es nur an Sonntagen. Alle persönlichen Utensilien werden nach Hause geschickt. Ausnahme: Eine Bibel, Familienfotos und ein Adressbuch sind erlaubt. Der Verlust der persönlichen Identität während der beiden ersten RS-Monate ist ein zentrales Ziel der Ausbildung.

Koedukation wird - anders als bei der Armee oder der Navy - nicht gepflegt. «Separat, but equal» (getrennt, aber gleich) lautet das Trainings-Motto: Weibliche Rekruten werden in separaten Trainings-Bataillonen ausgebildet. Einzige Konzession an den weiblichen Körperbau: Einige Hindernisse im Gelände sind weniger hoch.

Unterschiede zwischen den Rassen werden keine gemacht. «Es gibt keine weissen, schwarzen oder gelben Marines. Es gibt nur grüne Marines», besagt eine Redeweise. Ledige Rekruten erhalten monatlich 887 Dollar. Nach vier Monaten steigt der Lohn eines Marines auf 959 Dollar. Von dem Geld müssen die Uniform sowie persönliche Utensilien bezahlt werden.

Genügend Nachwuchs

Trotz der harten Lebensbedingungen im Camp hat das Marine-Korps keine Nachwuchsprobleme. Derzeit melden sich ausreichend junge Männer und Frauen zum Dienst in der Eliteeinheit. Ob das bei einer weiterhin florierenden Konjunktur, grosszügigen College-Stipendien und der zunehmenden Verweichlichung der jungen Generation so bleibt, ist mehr als fraglich.

Schwerpunkte in der Grundausbildung sind das tägliche «Physical Training» (Turnen), der «Close order drill» (Waffendrill mit Marschieren) und das Erlernen der «Core Values» (Kernwerte). Im Auditorium doziert Feldprediger Moreland was man unter «Honor, Courage and Commitment» versteht. «Respekt und Würde, niemals stehlen, lügen oder betrügen», lauten die Ausbildungspunkte beim Verhalten. «Mut» soll nicht nur unter Schönwetter-Bedingungen, sondern auch «unter Stress, Druck und Lebensangst» bewiesen werden. «Commitment» (Aufopferung) wird «rund um die Uhr für das Korps und das Land» verlangt. Im Auditorium sinken einige müde Köpfe auf die Tische. Die Instruktoren sorgen dafür, dass Rekruten wach bleiben.

Wer einmal unterschrieben hat, kann nicht grundlos aufgeben und nach Hause fahren: Austritte sind nur aus gesundheitlichen Gründen möglich. Militärpsychologen und Ärzte beurteilen, ob jemand dem Stress nicht gewachsen ist oder aus Bequemlichkeit simuliert. Verletzungen werden von Chirurgen beurteilt. Die Abbruchquote beträgt 17 Prozent bei den Männern und 22 Prozent bei den Frauen.

Drill und Gebrüll

Gefürchtet sind die Methoden der Marine-Ausbildner: Die Instruktoren gehen zuweilen bis an die Grenze des Machtmissbrauchs: Während des Drills wird gebrüllt, gedrängelt, gedrückt und geschunden. Wer nicht im Schritt geht oder den Arm im falschen Winkel beugt, wiederholt die Übung, bis der Sergeant zufrieden ist. Kinofilme wie «Forrest Gump» oder «Sands of Jwo Jima» haben ein Negativimage geschaffen, das Drill-Instruktoren als brutale, hinterlistige und böse Menschen zeigt. Major Mike Mullins, Direktor der DI-Schule, wehrt sich gegen dieses Bild: Es entspreche nicht der Wirklichkeit. Körperliche Gewaltanwendung sowie verbale Diffamierung seien tabu.

Rekruten, die sich schikaniert oder in ihren Rechten verletzt fühlten, hätten ein Klagerecht, betont er. Ein Blick in die Statistik zeigt: Jährlich muss jeder zweite Drill-Instruktor eine Disziplinaruntersuchung über sich ergehen lassen. Viele werden für Fehlverhalten gerügt.

Die umstrittenen Methoden, den Drill, das Anschreien und den bedingungslosen Gehorsam, verteidigt Major Mullins. «Diese Formen der soldatischen Grundausbildung haben sich in den letzten hundert Jahren bewährt. Rekruten sind nicht hier, um unsere Befehle in Frage zu stellen, sondern um Gehorsam zu lernen. Das ist auch im Kosovo so», ergänzt er.

Grosse Verantwortung

Ein Besuch auf dem Sportplatz einer Frauenkompanie beweist, dass Rekrutinnen nicht weniger angebrüllt werden als ihre männlichen Kollegen. Gunnery-Sergeant Ann Hubbard bildet pro Jahr dreihundert junge Frauen aus. Ihre Arbeit beschreibt sie als «grosse Verantwortung» und «Spass». Sie empfinde Genugtuung, wenn die jungen Marines nach der zwölfwöchigen Ausbildung das Camp mit Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verliessen, erläutert die 32jährige Mutter eines 16monatigen Sohnes.

Kritischer sieht es die 26jährige Dara Frye: Ihr Mann, der auf Parris Island als Instruktor arbeitet, könne in Gegenwart von Rekruten «ganz schön brutal werden», weiss sie zu berichten. Weibliche Drill-Instruktoren liefen «mit zuviel Testosteron herum». Insgesamt aber respektiert sie die Arbeit der Marine-Ausbildner: Jeder müsse «auf seine Weise glücklich werden», versichert Dara.

Der Präsident sagt, wohin

Nach der Rekrutenschule dislozieren die meisten Marines ins Camp Lejeune (North Carolina), wo sie an der dortigen Infanterie-Schule eine mehrwöchige Kampfausbildung erhalten. Anschliessend werden sie rund um den Globus bei der Bewachung von US-Botschaften, auf Flugzeugträgern oder im Kosovo eingesetzt.

Wer wo Dienst tut, entscheidet nicht der einzelne Soldat. «Wir gehen dahin, wo uns der Präsident schickt», versichert Hauptmann Keith Faust, Medienoffizier auf Parris Island, und ergänzt, selbstverständlich wäre er derzeit gerne im Kosovo mit dabei: «Da können wir Marines uns für den Frieden engagieren und Verfolgten beistehen.»

Den letzten Härtetest absolviert: Die Rekruten auf dem Camp in Parris Island marschieren zum Marine-Denkmal, wo sie in einer patriotischen Zeremonie zu Marines befördert werden. Fotos ps.

«Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir»

Parris Island.
ps. Der Einsatz im Kosovo ist kein Zuckerschlecken. Während der Feuerprobe «The Crucible» werden die Rekruten einem letzten Härtetest unterzogen: In 54 Stunden marschieren sie 67 Kilometer weit und bewältigen 29 Aufgaben. Ziel ist es, die Kompanien zu funktionierenden «Teams» zusammenzuschweissen.

Kampfbahn im Wald

311 Rekruten des 1. Bataillons werden am Donnerstag der 11. Ausbildungswoche kurz nach ein Uhr morgens geweckt. Auf dem «Page Field», einer ausgemusterten Betonpiste mitten im Wald, absolvieren sie im Dunkeln eine erste Kampfbahn. Über Langhölzer, eine Ladenwand sowie unter Stacheldraht durch führt der Kurs, bis zum Schluss grüne «Dummies» (Gummipuppen) mit dem Bajonett erstochen werden. Rekrut Cambell prescht zu weit vor und wird von seinem Zugführer zurückgepiffen. Im Kosovo wäre er möglicherweise Opfer einer Landmine geworden.

Kräfteverschleissend sind die körperlichen Anforderungen: Beim «Jenkin's Pinacle» liegt ein Baumstamm in fast zwei Metern Höhe. Die beiden stärksten Jungs klettern auf das Hindernis und ziehen - auf dem Stamm sitzend - ihre Kameraden mit vereinten Kräften über den Balken. Wer seine Waffe vergisst, muss das Hindernis in umgekehrter Richtung überklettern. Rekrut Christel schafft die Rosskur auf Anhieb. Als Pfadfinder verbrachte er viel Zeit in der freien Natur. Bereits sein Grossvater war Angehöriger des Korps. «Die Marines machten mir das beste Angebot: Wenn ich nach vier Jahren dabei bleibe, erhalte ich ein Stipendium und kann meinen Lebenstraum verwirklichen: Ich will Geschichtslehrer werden», erzählt der 20jährige.

Den Stress, das Sich-Anschreien-Lassen, die Erniedrigung hat Christel inzwischen akzeptiert. Von den Drill-Instruktoren werde er «hart, aber fair behandelt», berichtet er. Nach zwölf Stunden im Wald fühle er sich noch fit und motiviert, ergänzt der Rekrut, bevor er von seinen Kameraden durch einen aufgehängten Autoreifen («Mackie's Passage») geschoben wird. Vor einem Nachtmarsch und einer Infiltrationsübung dürfen sich die angehenden Marines erstmals verpflegen. Während er sein MRE («Meal Ready to Eat») verdrückt, klagt Rekrut Smart über Müdigkeit. «Ich möchte mich hinlegen. Ob ich die verbleibenden 36 Stunden durchhalten werde, weiss ich nicht», murmelt der 19jährige erschöpft vor sich hin. Sergeant Bliss beseitigt die aufkommenden Zweifel: «Aufstehen, Zusammenpacken, Abmarsch», befiehlt der Drill-Instruktor.

Am Freitag morgen nimmt das Platoon die nächsten sechs Hindernisse in Angriff. Erdrückend wiegt der zwölf Kilo schwere Rucksack. Rekrut Cambell beklagt sich über Blasen an den Füssen. «Hinsetzen, einpudern und verbinden», befiehlt der Sergeant. Cambells Kameraden nehmen «Cecula's Wall», eine drei Meter hohe Holzwand, in Angriff.

Ein Lebenstraum

Die Absolvierung von «Sergeant Gonzalez' Crossing» erfordert «Köpfchen»: Es gilt, einen Verwundeten an einem hängenden Seil über drei Holzplattformen zu transportieren. Tüchtig Schwung im richtigen Winkel und das zuverlässige Einschätzen der Distanzen helfen bei der Bewältigung der Aufgabe. Weil die Übung in der Gasmaske absolviert werden muss, sind die dumpfen Befehle nur schwer zu verstehen.

Rekrut Childress aus Michigan weiss seit RS-Beginn, worauf er sich eingelassen hat. «Es war mein Lebenstraum, Marine zu werden. Als Autobauer bei General Motors würde ich wesentlich mehr verdienen und ein leichteres Leben führen. Aber dieser Rekrut sucht das Abenteuer, den Nervenkitzel. Er will um die Welt reisen und fremde Länder sehen», erzählt der 24jährige in der dritten Person und ergänzt: «Ins Marine-Korps eintreten bedeutet für ihn: Zu den Besten gehören.»

In einem Zelt behandelt der Zug die für Marines typischen Werte, die «Core Values». In Frag- und Antwortspiel leiern die Rekruten «Honor, Courage, Commitment» herunter und erläutern, was sie darunter verstehen. «Are we here to help?», fragt der Drill- Instruktor scharf. «Sir, yes Sir», lautet die einstimmige Antwort. «Mögen wir Verluste?» «Sir, no Sir», «Are we a team?» «Sir, yes Sir», «Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir», schreit es aus 15 Kehlen.

Rekrut Childress ist die Müdigkeit anzusehen: Er könnte mit offenen Augen schlafen, klagt er. «Gemeinsam hat das Platoon Rekrut Cambell geschleppt, als er wegen seiner Blasen nicht mehr weiter konnte», erzählt sein Banknachbar. Als Individuen seien sie jetzt nicht mehr funktionstüchtig, erläutert der Sergeant. Den «Crucible» könnten sie nun nur noch im Team bestehen. Motiviert und das Ziel vor Augen, nimmt das Platoon die zweite Nacht in Angriff. Vor einer Evakuierungsübung wird das letzte MRE verzehrt. Jeweils zwei Rekruten teilen sich in eine Packung. Auch dies ist eine «Gruppenübung». Die Sandfliegen werden immer aufdringlicher. Das Nachtschiessen will kein Ende nehmen.

Nach elf Wochen am Ziel

Doch dann wird es langsam Tag. Gemeinsam verlassen Drill-Instruktoren und Rekruten den Wald, reissen sich ein letztes Mal zusammen und marschieren in Sechserkolonnen unter Kriegsgeheul beim Pectross-Parade-Deck ein. Vor dem Marine-Denkmal versammeln sie sich am Samstag morgen pünktlich um 7.45 Uhr. Aus einem Lautsprecher dröhnt der Sousa-Marsch «Stars and Stripes». Das Sternenbanner geht am Mast hoch. Der Feldprediger betet: «Wir sind hungrig, wir sind durstig, aber wir sind angekommen.» Dann kommt der Moment, dem alle Rekruten elf Wochen lang entgegengefiebert haben: Aus der Hand ihrer Drill-Instruktoren erhalten die Gedrillten das Marine-Abzeichen, einen schwarzen Metall-Pin mit Adler, Globus und Anker. Ab sofort sind sie nicht mehr Rekruten, sondern Marines. Ab sofort dürfen sie wieder in der Ich-Form reden. Ab sofort sind sie für den Einsatz im Kosovo gerüstet.

Wie US-Marines für den Kosovo-Einsatz gedrillt werden


Im Rahmen der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind seit vergangener Woche auch 2200 US-Marines im Kosovo im Einsatz. Wie werden die amerikanischen Elitesoldaten der 26. Expeditionseinheit auf ihre gefährliche Aufgabe vorbereitet? Die BaZ hat in einer Rekrutenschule in South Carolina einen Augenschein genommen.

Minen räumen, Flüchtlinge beschützen, Verwundete verarzten, Brücken und Strassen flicken, Transportwege erkunden und bei all diesen Aufgaben die eigene Sicherheit nicht vernachlässigen: Die Anforderungen an die Soldaten der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind hoch, weshalb nur die Besten geschickt werden. Mit von der Partie sind 2200 amerikanische Marines.

Von Peter Schibli, Parris Island

Dass die Elitesoldaten als erste US-Einheit in den Kosovo einmarschiert sind, ist kein Zufall. Marines sind eine Mischung aus Armee- und Navy-Angehörigen: Sie kämpfen sowohl zu Land als auch auf hoher See. Weil sie vorzugsweise zur Evakuierung von Zivilpersonen eingesetzt werden, nennt man sie auch «Amerikas 911» (Notfallnummer). Physische und psychische Härte, absoluter Gehorsam sowie die Bereitschaft, im Gefecht zu sterben, gehören zu ihren Markenzeichen.

Auf der Insel Parris Island, südlich der Stadt Charleston, werden Schulbuben und Schulmädchen in einer dreimonatigen RS zu Marines geschmiedet. Wer das 17. Altersjahr überschritten hat und auf die angenehmen Seiten des Zivillebens verzichten kann, ist willkommen.

Weitere Aufnahmebedingungen sind ein eiserner Wille sowie körperliche Fitness: Männer müssen mindestens zwei Klimmzüge und 44 Rumpfbeugen in 30 Sekunden absolvieren sowie 2,1 Kilometer in 13 Minuten laufen können. Von Frauen wird verlangt, dass sie zwölf Sekunden lang an beiden Armen hängen, in zwei Minuten 44 Rumpfbeugen hinlegen und in zehn Minuten 1,6 Kilometer weit laufen können. «Durch diese Türen schreiten die Anwärter für Amerikas edelste Streitmacht», heisst es über dem Portal des Aufnahmegebäudes. Stolz versichert der Kommandant den Besuchern: «Wir sind die allseits bereiten Wächter der Nation.» 97 Prozent der Rekruten kommen direkt von einer High-School nach Parris Island. Die wenigsten sind verheiratet. Für viele ist es die erste längere Trennung vom Elternhaus. Heimweh gehört zum Alltag.

Verlust der Identität

Auf den gelben Fusstritten vor dem Aufnahmegebäude merkt ein Rekrut sehr schnell, dass hier neue Regeln gelten: «Du bist nichts, kannst nichts. Wir machen einen Marine aus dir», schreit der Drill-Instruktor (DI). Ab sofort darf nicht mehr in der Ich-Form geredet werden. «Ich muss aufs Klo» heisst in der Marine-Sprache: «This recruit has to make a head-call.» Statt zum Essen geht man zum «Chow». Jeder Vorgesetzte wird mit «Sir» angesprochen.

Während der gesamten RS sind Radio und Fernsehen verboten. Zeitungen gibt es nur an Sonntagen. Alle persönlichen Utensilien werden nach Hause geschickt. Ausnahme: Eine Bibel, Familienfotos und ein Adressbuch sind erlaubt. Der Verlust der persönlichen Identität während der beiden ersten RS-Monate ist ein zentrales Ziel der Ausbildung.

Koedukation wird - anders als bei der Armee oder der Navy - nicht gepflegt. «Separat, but equal» (getrennt, aber gleich) lautet das Trainings-Motto: Weibliche Rekruten werden in separaten Trainings-Bataillonen ausgebildet. Einzige Konzession an den weiblichen Körperbau: Einige Hindernisse im Gelände sind weniger hoch.

Unterschiede zwischen den Rassen werden keine gemacht. «Es gibt keine weissen, schwarzen oder gelben Marines. Es gibt nur grüne Marines», besagt eine Redeweise. Ledige Rekruten erhalten monatlich 887 Dollar. Nach vier Monaten steigt der Lohn eines Marines auf 959 Dollar. Von dem Geld müssen die Uniform sowie persönliche Utensilien bezahlt werden.

Genügend Nachwuchs

Trotz der harten Lebensbedingungen im Camp hat das Marine-Korps keine Nachwuchsprobleme. Derzeit melden sich ausreichend junge Männer und Frauen zum Dienst in der Eliteeinheit. Ob das bei einer weiterhin florierenden Konjunktur, grosszügigen College-Stipendien und der zunehmenden Verweichlichung der jungen Generation so bleibt, ist mehr als fraglich.

Schwerpunkte in der Grundausbildung sind das tägliche «Physical Training» (Turnen), der «Close order drill» (Waffendrill mit Marschieren) und das Erlernen der «Core Values» (Kernwerte). Im Auditorium doziert Feldprediger Moreland was man unter «Honor, Courage and Commitment» versteht. «Respekt und Würde, niemals stehlen, lügen oder betrügen», lauten die Ausbildungspunkte beim Verhalten. «Mut» soll nicht nur unter Schönwetter-Bedingungen, sondern auch «unter Stress, Druck und Lebensangst» bewiesen werden. «Commitment» (Aufopferung) wird «rund um die Uhr für das Korps und das Land» verlangt. Im Auditorium sinken einige müde Köpfe auf die Tische. Die Instruktoren sorgen dafür, dass Rekruten wach bleiben.

Wer einmal unterschrieben hat, kann nicht grundlos aufgeben und nach Hause fahren: Austritte sind nur aus gesundheitlichen Gründen möglich. Militärpsychologen und Ärzte beurteilen, ob jemand dem Stress nicht gewachsen ist oder aus Bequemlichkeit simuliert. Verletzungen werden von Chirurgen beurteilt. Die Abbruchquote beträgt 17 Prozent bei den Männern und 22 Prozent bei den Frauen.

Drill und Gebrüll

Gefürchtet sind die Methoden der Marine-Ausbildner: Die Instruktoren gehen zuweilen bis an die Grenze des Machtmissbrauchs: Während des Drills wird gebrüllt, gedrängelt, gedrückt und geschunden. Wer nicht im Schritt geht oder den Arm im falschen Winkel beugt, wiederholt die Übung, bis der Sergeant zufrieden ist. Kinofilme wie «Forrest Gump» oder «Sands of Jwo Jima» haben ein Negativimage geschaffen, das Drill-Instruktoren als brutale, hinterlistige und böse Menschen zeigt. Major Mike Mullins, Direktor der DI-Schule, wehrt sich gegen dieses Bild: Es entspreche nicht der Wirklichkeit. Körperliche Gewaltanwendung sowie verbale Diffamierung seien tabu.

Rekruten, die sich schikaniert oder in ihren Rechten verletzt fühlten, hätten ein Klagerecht, betont er. Ein Blick in die Statistik zeigt: Jährlich muss jeder zweite Drill-Instruktor eine Disziplinaruntersuchung über sich ergehen lassen. Viele werden für Fehlverhalten gerügt.

Die umstrittenen Methoden, den Drill, das Anschreien und den bedingungslosen Gehorsam, verteidigt Major Mullins. «Diese Formen der soldatischen Grundausbildung haben sich in den letzten hundert Jahren bewährt. Rekruten sind nicht hier, um unsere Befehle in Frage zu stellen, sondern um Gehorsam zu lernen. Das ist auch im Kosovo so», ergänzt er.

Grosse Verantwortung

Ein Besuch auf dem Sportplatz einer Frauenkompanie beweist, dass Rekrutinnen nicht weniger angebrüllt werden als ihre männlichen Kollegen. Gunnery-Sergeant Ann Hubbard bildet pro Jahr dreihundert junge Frauen aus. Ihre Arbeit beschreibt sie als «grosse Verantwortung» und «Spass». Sie empfinde Genugtuung, wenn die jungen Marines nach der zwölfwöchigen Ausbildung das Camp mit Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verliessen, erläutert die 32jährige Mutter eines 16monatigen Sohnes.

Kritischer sieht es die 26jährige Dara Frye: Ihr Mann, der auf Parris Island als Instruktor arbeitet, könne in Gegenwart von Rekruten «ganz schön brutal werden», weiss sie zu berichten. Weibliche Drill-Instruktoren liefen «mit zuviel Testosteron herum». Insgesamt aber respektiert sie die Arbeit der Marine-Ausbildner: Jeder müsse «auf seine Weise glücklich werden», versichert Dara.

Der Präsident sagt, wohin

Nach der Rekrutenschule dislozieren die meisten Marines ins Camp Lejeune (North Carolina), wo sie an der dortigen Infanterie-Schule eine mehrwöchige Kampfausbildung erhalten. Anschliessend werden sie rund um den Globus bei der Bewachung von US-Botschaften, auf Flugzeugträgern oder im Kosovo eingesetzt.

Wer wo Dienst tut, entscheidet nicht der einzelne Soldat. «Wir gehen dahin, wo uns der Präsident schickt», versichert Hauptmann Keith Faust, Medienoffizier auf Parris Island, und ergänzt, selbstverständlich wäre er derzeit gerne im Kosovo mit dabei: «Da können wir Marines uns für den Frieden engagieren und Verfolgten beistehen.»

Den letzten Härtetest absolviert: Die Rekruten auf dem Camp in Parris Island marschieren zum Marine-Denkmal, wo sie in einer patriotischen Zeremonie zu Marines befördert werden. Fotos ps.

«Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir»

Parris Island.
ps. Der Einsatz im Kosovo ist kein Zuckerschlecken. Während der Feuerprobe «The Crucible» werden die Rekruten einem letzten Härtetest unterzogen: In 54 Stunden marschieren sie 67 Kilometer weit und bewältigen 29 Aufgaben. Ziel ist es, die Kompanien zu funktionierenden «Teams» zusammenzuschweissen.

Kampfbahn im Wald

311 Rekruten des 1. Bataillons werden am Donnerstag der 11. Ausbildungswoche kurz nach ein Uhr morgens geweckt. Auf dem «Page Field», einer ausgemusterten Betonpiste mitten im Wald, absolvieren sie im Dunkeln eine erste Kampfbahn. Über Langhölzer, eine Ladenwand sowie unter Stacheldraht durch führt der Kurs, bis zum Schluss grüne «Dummies» (Gummipuppen) mit dem Bajonett erstochen werden. Rekrut Cambell prescht zu weit vor und wird von seinem Zugführer zurückgepiffen. Im Kosovo wäre er möglicherweise Opfer einer Landmine geworden.

Kräfteverschleissend sind die körperlichen Anforderungen: Beim «Jenkin's Pinacle» liegt ein Baumstamm in fast zwei Metern Höhe. Die beiden stärksten Jungs klettern auf das Hindernis und ziehen - auf dem Stamm sitzend - ihre Kameraden mit vereinten Kräften über den Balken. Wer seine Waffe vergisst, muss das Hindernis in umgekehrter Richtung überklettern. Rekrut Christel schafft die Rosskur auf Anhieb. Als Pfadfinder verbrachte er viel Zeit in der freien Natur. Bereits sein Grossvater war Angehöriger des Korps. «Die Marines machten mir das beste Angebot: Wenn ich nach vier Jahren dabei bleibe, erhalte ich ein Stipendium und kann meinen Lebenstraum verwirklichen: Ich will Geschichtslehrer werden», erzählt der 20jährige.

Den Stress, das Sich-Anschreien-Lassen, die Erniedrigung hat Christel inzwischen akzeptiert. Von den Drill-Instruktoren werde er «hart, aber fair behandelt», berichtet er. Nach zwölf Stunden im Wald fühle er sich noch fit und motiviert, ergänzt der Rekrut, bevor er von seinen Kameraden durch einen aufgehängten Autoreifen («Mackie's Passage») geschoben wird. Vor einem Nachtmarsch und einer Infiltrationsübung dürfen sich die angehenden Marines erstmals verpflegen. Während er sein MRE («Meal Ready to Eat») verdrückt, klagt Rekrut Smart über Müdigkeit. «Ich möchte mich hinlegen. Ob ich die verbleibenden 36 Stunden durchhalten werde, weiss ich nicht», murmelt der 19jährige erschöpft vor sich hin. Sergeant Bliss beseitigt die aufkommenden Zweifel: «Aufstehen, Zusammenpacken, Abmarsch», befiehlt der Drill-Instruktor.

Am Freitag morgen nimmt das Platoon die nächsten sechs Hindernisse in Angriff. Erdrückend wiegt der zwölf Kilo schwere Rucksack. Rekrut Cambell beklagt sich über Blasen an den Füssen. «Hinsetzen, einpudern und verbinden», befiehlt der Sergeant. Cambells Kameraden nehmen «Cecula's Wall», eine drei Meter hohe Holzwand, in Angriff.

Ein Lebenstraum

Die Absolvierung von «Sergeant Gonzalez' Crossing» erfordert «Köpfchen»: Es gilt, einen Verwundeten an einem hängenden Seil über drei Holzplattformen zu transportieren. Tüchtig Schwung im richtigen Winkel und das zuverlässige Einschätzen der Distanzen helfen bei der Bewältigung der Aufgabe. Weil die Übung in der Gasmaske absolviert werden muss, sind die dumpfen Befehle nur schwer zu verstehen.

Rekrut Childress aus Michigan weiss seit RS-Beginn, worauf er sich eingelassen hat. «Es war mein Lebenstraum, Marine zu werden. Als Autobauer bei General Motors würde ich wesentlich mehr verdienen und ein leichteres Leben führen. Aber dieser Rekrut sucht das Abenteuer, den Nervenkitzel. Er will um die Welt reisen und fremde Länder sehen», erzählt der 24jährige in der dritten Person und ergänzt: «Ins Marine-Korps eintreten bedeutet für ihn: Zu den Besten gehören.»

In einem Zelt behandelt der Zug die für Marines typischen Werte, die «Core Values». In Frag- und Antwortspiel leiern die Rekruten «Honor, Courage, Commitment» herunter und erläutern, was sie darunter verstehen. «Are we here to help?», fragt der Drill- Instruktor scharf. «Sir, yes Sir», lautet die einstimmige Antwort. «Mögen wir Verluste?» «Sir, no Sir», «Are we a team?» «Sir, yes Sir», «Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir», schreit es aus 15 Kehlen.

Rekrut Childress ist die Müdigkeit anzusehen: Er könnte mit offenen Augen schlafen, klagt er. «Gemeinsam hat das Platoon Rekrut Cambell geschleppt, als er wegen seiner Blasen nicht mehr weiter konnte», erzählt sein Banknachbar. Als Individuen seien sie jetzt nicht mehr funktionstüchtig, erläutert der Sergeant. Den «Crucible» könnten sie nun nur noch im Team bestehen. Motiviert und das Ziel vor Augen, nimmt das Platoon die zweite Nacht in Angriff. Vor einer Evakuierungsübung wird das letzte MRE verzehrt. Jeweils zwei Rekruten teilen sich in eine Packung. Auch dies ist eine «Gruppenübung». Die Sandfliegen werden immer aufdringlicher. Das Nachtschiessen will kein Ende nehmen.

Nach elf Wochen am Ziel

Doch dann wird es langsam Tag. Gemeinsam verlassen Drill-Instruktoren und Rekruten den Wald, reissen sich ein letztes Mal zusammen und marschieren in Sechserkolonnen unter Kriegsgeheul beim Pectross-Parade-Deck ein. Vor dem Marine-Denkmal versammeln sie sich am Samstag morgen pünktlich um 7.45 Uhr. Aus einem Lautsprecher dröhnt der Sousa-Marsch «Stars and Stripes». Das Sternenbanner geht am Mast hoch. Der Feldprediger betet: «Wir sind hungrig, wir sind durstig, aber wir sind angekommen.» Dann kommt der Moment, dem alle Rekruten elf Wochen lang entgegengefiebert haben: Aus der Hand ihrer Drill-Instruktoren erhalten die Gedrillten das Marine-Abzeichen, einen schwarzen Metall-Pin mit Adler, Globus und Anker. Ab sofort sind sie nicht mehr Rekruten, sondern Marines. Ab sofort dürfen sie wieder in der Ich-Form reden. Ab sofort sind sie für den Einsatz im Kosovo gerüstet.

Freitag, Dezember 22, 2006

Zwischen Chaos und Ballett: Leben auf einem Flugzeugträger


Die elf Flugzeugträger der amerikanischen Navy sind ein «wichtiges strategisches Standbein» der US-Streitkräfte. Während eines Besuchs an Bord der «USS Kennedy» hatte die BaZ Gelegenheit, die Arbeit der Crew zu beobachten. Die «Kennedy» ist derzeit unterwegs in den Persischen Golf, wo sie die «USS Roosevelt» ablösen wird.

Die Wellen des Ozeans kommen näher und näher. Durch eine kleine Luke in der Flugzeugwand wird die Gischt erkennbar. In Rettungsweste, Helm und Brille sowie rückwärts sitzend, trifft mich der Aufprall mit voller Wucht: Ein kurzer Hüpfer, dann packt der Haken unter dem Flugzeugschwanz das an Bord gespannte Stahlseil. Die Fliehkraft drückt mich in den Sessel. Innert Sekunden bremst die C-2 Greyhound von über 100 Stundenkilometern auf Null ab.

Von Peter Schibli, an Bord der «USS Kennedy»

Eingehüllt in Wasserdampf und Abgase, kommt die Transportmaschine auf dem Flugdeck zum Stehen. Durch die sich öffnende Heckluke werden rote, grüne, gelbe und blaue Westen sichtbar. Gebannt starren die Gestalten auf den Neuankömmling. Ein weiss markierter Offizier signalisiert, den Helm und die Brille aufgesetzt zu lassen. Der feucht-heisse Luftdruck sowie der Lärm startender Maschinen wirken benebelnd. Zuvorkommend werde ich zu einem sicheren Raum im Schiffsinneren geleitet. Sicherheit wird gross geschrieben. Erst jetzt darf ich die Rettungsutensilien ablegen. «Willkommen in der schwimmenden Stadt», lautet der kurze Gruss des Public Affairs Officers, Jim Walker.

Gigantische Ausmasse

Die «USS Kennedy» zählt 5200 Mann Besatzung. Rund die Hälfte ist für die Versorgung, die Navigation sowie den Unterhalt zuständig. Die andere Hälfte betreut den Flugbetrieb. 85 Flugzeuge befinden sich an Bord, mehrheitlich F/A-18 Hornet, F-14 Tomcat und EA-6b Prowler. Zwei Helikopter halten sich zu Rettungseinsätzen bereit.

Das Flugdeck ist 315 Meter lang und 76 Meter breit. Insgesamt vier Seile werden nebeinander gespannt und fangen anfliegende Maschinen auf; dies geschieht in voller Fahrt. Das Schiff selbst fährt bis zu 30 Knoten (rund 50 Stundenkilometer) schnell. Jede Einzelheit ist überwältigend: Die vier Schrauben haben einen Durchmesser von je sieben Metern. Ein Anker wiegt 30 Tonnen.

Heimathafen ist Mayport (Florida). Seit ihrem Stapellauf im Jahr 1968 war die «Kennedy» an vielen wichtigen Operationen beteiligt: Kampfjets des Carriers schossen 1989 im Mittelmeer zwei libysche Maschinen ab. Im Januar 1991 war das Schiff vorübergehend Kommandozentrale der «Operation Desert Storm». Während des Golfkriegs schoss die Besatzung insgesamt 114 Cruise Missiles ab; ihre Piloten flogen 2900 Einsätze.

Admiral Michael Johnson kommandiert von der «Kennedy» aus die gesamte Schlachtgruppe, zu der zwei U-Boote, ein Zerstörer, ein Kreuzer sowie mehrere Versorgungs- und Landungsschiffe gehören. Im Gespräch mit der BaZ rühmt er die Besatzung in den höchsten Tönen: «Meine Jungs haben noch nie verloren. Sie sind hochmotiviert und professionell», lobt er und ergänzt: «Was auf den ersten Blick wie Chaos aussieht, ist in Wirklichkeit Ballett.»

Gleichzeitig gesteht Johnson ein, dass das Flugdeck ein «ausgesprochen gefährlicher Arbeitsplatz» ist. Wie geht der Kommandant mit dem Unfallrisiko um? Seine Antwort lautet: «Training, Training, Training.» Neben der technischen Ausbildung habe die «mentale Vorbereitung auf einen allfälligen Zwischenfall» einen «sehr hohen Stellenwert», betont er.

Flugzeugträger werden wichtiger

Flugzeugträger sind wegen ihrer Unabhängigkeit und Grösse wichtige militärstrategische Standbeine einer Militärmacht. Nach Aussage von Admiral Donald Pillig, Vize-Admiral der «US Naval Operations», werden künftige Konfrontationen mit Diktatoren und Despoten nicht von Landarmeen, sondern von der Navy und der Air Force gewonnen.

Bisher galt die Doktrin, dass die US-Streitkräfte maximal in zwei regionale Konflikte involviert sein können. Neu werden auch Engagements in drei oder vier Regionalkriegen für möglich gehalten. Dies hat Folgen: Pentagon-Planer sowie Mitglieder des Militärausschusses im Kongress sind der Ansicht, dass die Navy mehr Flugzeugträger braucht. Derzeit besitzt sie elf; zwei weitere sind im Bau.

Das Leben an Bord der «schwimmenden Stadt» lässt sich am besten während eines Rundgangs beobachten. Zuoberst im Turm überwacht der Air-Boss den Luftverkehr. Pausenlos starten und landen Maschinen. Die Kampfflieger sind Teil des Manövers. Laut Szenario führen zwei fiktive Staaten, Korona und Kartuna, Krieg gegeneinander. Die «USS Kennedy» hat den Auftrag, Korona sowie deren Verbündete zu schützen.

Von der Funkbrücke aus leiten Air-Boss Dan Onakage sowie Mini-Boss Greg Novak den gesamten Luftverkehr. Fein säuberlich protokollieren Helfer die einzelnen Bewegungen. Unten auf dem Flugdeck bereiten Mechaniker wartende Maschinen für den Start vor. Mit Handzeichen verständigt sich die Deck-Crew mit den Piloten.

Riesiger Bedarf an Treibstoff

Eine Etage tiefer, auf der Kommando-Brücke, überwacht der Kapitän das Auftanken des Flugzeugträgers. 1,9 Millionen Gallonen Treibstoff (rund 7,2 Millionen Liter) werden von einem Tankschiff auf die «USS Kennedy» gepumpt. Der Steuermann hält Kurs, während der Funker mit seinem Kollegen auf dem Tankschiff kommuniziert.

Auch im Hangar, im Maschinenraum sowie in den Labors herrscht professionelle Hektik. In der Küche werden täglich 15 600 Mahlzeiten zubereitet. Zusätzlich braucht es pro Tag 800 Laib Brot. Die Vorräte im Wert von 3,3 Millionen Dollar reichen für 80 Tage. Food-Direktor Don Homes verweist auf die grosse Auswahl: Neben Gemüse, Fleisch und Milchprodukten liebt die Besatzung Pizza oder Burger. «Ein leckeres Essen garantiert eine gut gelaunte Mannschaft», berichtet Homes.

An der Verpflegung dürfte es nicht liegen, dass die Navy, genau wie die US-Army und die Air Force, an Nachwuchsmangel leidet. 22 000 von insgesamt 375 000 Navy-Stellen sind unbesetzt. Präsident Clinton hat dem Kongress eine generelle Salärerhöhung von 9,9 Prozent beantragt. «Das Leben auf See ist nicht jedermanns Sache», weiss Admiral Johnson. Der Kontakt zur Familie leidet. Einsamkeit und Heimweh können Neulinge überwältigen. Colleges bieten lukrative Stipendien. Die Konjunktur läuft gut: Statt bei der Navy sucht man sich lieber einen Job in der Privatwirtschaft.


«Kampfpiloten sind aggressive Persönlichkeiten»

ps. Eller Ajello sitzt im Warteraum des 86. Kampfgeschwaders. Der F/A-18-Pilot wartet auf seinen nächsten Einsatz. Auf Monitoren ist die Tagesschau des US-Senders CBS zu sehen. Ein anderer Bildschirm zeigt das Flugdeck der «USS Kennedy» aus verschiedenen Perspektiven. Unter Getöse wird gerade ein Jet von Bord katapultiert.

Pausenlos klingeln Telefone. Über Lautsprecher sind Funksprüche der Flugkontrolle, des «War Room» und der Piloten zu hören: «101 take-off.» «Confirmed.» «101 airborn.» «Mission 35.25 North, 46.89 West.» «Confirmed.» «Target 46.39 South, 11.99 East.» «Confirmed.»

«Ruhe dich aus»

Im bequemen Armsessel döst Leutnant Ajello vor sich hin. Aus einer Kaffeemaschine blubbert eine schwarze Brühe in einen Krug. An der Wand hängen Einsatzpläne, Wettermeldungen, Flugrapporte, technische Berichte und einige Karikaturen. «Ruh dich aus, so oft du kannst», lautet die Empfehlung auf einem Banner.

Ajello ist 29-jährig, verheiratet und gehört der Navy seit 1993 an. Dank ihr hat er seinen Bubentraum verwirklicht: Seit drei Jahren fliegt der grossgewachsene Italo-Amerikaner auf der «USS Kennedy» Kampfjets. «Wir Piloten sind aggressive Persönlichkeiten», erklärt er dem Besucher. «Wir attackieren unsere Ziele wie Hunde die Katzen.» Nach sechsjähriger Flugpraxis kennt er Todesangst nur noch nachts, und auch dies nur unter besonders gefährlichen Umständen. «Tagsüber auf der ‹Kennedy› zu landen, macht richtig Spass», meint er und ergänzt scherzend: «Bezahlt werden wir für die Nachtlandungen.» Schlechte Erinnerungen hegt er an jene Nacht, in der er dreimal hintereinander durchstarten musste: «Anschliessend schickte mich der Air-Boss zur Erholung auf einen Landflughafen. Die Rückkehr aufs Schiff war eine überaus peinliche Erfahrung.» Auf einen Unfalltod oder eine Gefangennahme nach einem Abschuss fühlt sich Ajello ausreichend vorbereitet. «Wir leben mit dem Crash-Risiko und machen uns täglich unsere Gedanken.» Die totale Überlegenheit der US-Waffensysteme gebe ihm Selbstvertrauen, erklärt der Pilot, der während der Operation «Southern Watch» 1997 viereinhalb Monate lang «Erfahrung in einer feindlichen Umgebung» sammeln konnte.

Das Bordleben ist zur Routine geworden: Schlafen, Essen, Pikettdienst, Fliegen, Freizeit, Schlafen … Nach der Tagwacht und dem Frühstück absolviert Ajello ein erstes Briefing. Eine halbe Stunde später begutachtet er sein Flugzeug im Hangar. Dabei stellt er einen Defekt fest und beauftragt einen Mechaniker mit der Reparatur.

Um 9.30 Uhr steigt er auf dem Flugdeck in seine angeblich geflickte Maschine. Beim «Andocken» stellt die Crew fest, dass die Katapulthalterung nach wie vor klemmt. Aussteigen und zurück in den Hangar, lautet das Kommando. Während sich die Spezialisten des Problems annehmen, legt sich der Pilot für zwei Stunden aufs Ohr.

Nach dem Mittagessen klappt es mit dem Start. Ausgeruht fliegt Ajello vor der Küste South Carolinas einen Doppeleinsatz, tankt zweimal in der Luft auf und kehrt erst gegen 18 Uhr auf den Flugzeugträger zurück. Dem Abendessen folgen ein Abschluss-Briefing sowie ein Training im Kraftraum. Kurz vor Mitternacht, während der nächsten Pikettphase, findet er dann Zeit für das Gespräch mit der BaZ.

Ohne Familie und Freunde

Feldweibel Barbara Smith arbeitet im Elektronikraum. Die Fiber-Optik-Spezialistin ist gerade dabei, ein defektes Satellitenradar (Global-Positioning-System, GPS) zu flicken. Die 28-jährige ist seit elf Jahren bei der Navy. «Auf dem Schiff habe ich meine guten und meine schlechten Tage. Wenn ich arbeite, geht es mir blendend; in der Freizeit wünsche ich mir oft, ich wäre an Land.» Barbara vermisst ihre Eltern in Pennsylvania sowie ihre Freunde.

Zur Navy ging sie aus Karrieregründen: «In einigen Jahren möchte ich an ein College geschickt werden und dort ein Elektronik-Diplom machen. Wenn ich nach 25 Dienstjahren pensioniert werde, suche ich mir einen zweiten Job, entweder bei der Flugüberwachung oder bei der Flugaufsichtsbehörde FAA», träumt sie.

Trotz mehrerer Beziehungen hat sie den richtigen Mann fürs Leben noch nicht gefunden. Das Schiff ist für die Partnersuche wohl auch nicht der optimale Ort. «Positive Entwicklungen» festgestellt hat sie immerhin in Sachen «sexueller Belästigung»: «Heute werde ich von der mehrheitlich männlichen Besatzung viel weniger angemacht als vor zehn Jahren», berichtet Barbara. Sie führt dies primär auf das Training und die erhöhte Aufmerksamkeit zurück, die dem Thema beim Militär geschenkt wird.

Angst vor dem Tod hat die junge Frau nicht. Im vergangenen Jahr verbrachte sie sechs Monate im Persischen Golf. Auch der neue Einsatz der «USS Kennedy» in der Golfregion lässt sie kalt: «Wir sind auf alle möglichen Zwischenfälle vorbereitet. Ausserdem ist unser Schiff hervorragend geschützt. Ich bin sicher, dass es Saddam Hussein nicht wagt, uns anzugreifen.»

Nicht Teil der Kriegsmaschinerie

Eine ähnliche Einstellung wird bei Edward Crawford spürbar: «Die ‹USS Kennedy› ist ein unsinkbares Schiff und ein idealer Arbeitsplatz zugleich», meint er. Der 19-Jährige aus dem Bundesstaat Mississippi kam vor einem Jahr an Bord und leistet seither als Gehilfe im Büro des Schiffssekretärs Dienst: Er tippt Protokolle, schreibt Tagesbefehle und verschickt Pakete. Während unseres Gesprächs ist er gerade mit dem Verschnüren der «Trauerfahne» beschäftigt, die an die Kennedy-Familie gesandt wird. Die Flagge war während einer Schweigeminute aus Anlass des tragischen Unfalls von John Kennedy jr. auf Halbmast gesetzt worden.

Crawford, dessen Grossvater zur See fuhr, meldete sich unmittelbar nach der High School zum Militärdienst, weil er nicht seiner Mutter zur Last fallen wollte. Die finanzielle Hypothek für die sieben restlichen Kinder sei hoch genug, findet er. So zog der junge Farbige aus, um bei der Navy eine Ausbildung zu erhalten. Verpflichtet hat er sich für vier Jahre, in der Hoffnung, anschliessend an ein College geschickt zu werden.

Die Bezahlung ist schlecht

Die Diskriminierung auf dem Schiff bezeichnet er als «minimal». Die Hautfarbe sei «weder für Vorgesetzte noch für Kameraden ein Thema». Die Bezahlung indes könnte besser sein. Crawford verdient 850 Dollar monatlich. Von diesem Geld muss er die Uniform bezahlen. Den Rest schickt er seiner Mutter. «Für die Ausbildung meiner Geschwister», wie er stolz erzählt.

Der Dienst auf einem Kriegsschiff scheint für ihn Einstellungssache. Selbstverständlich möchte er später in einem zivilen Job arbeiten. Für den Moment aber besitzt er keine Alternative. Trotzdem: «Ich verstehe mich nicht als Teil der amerikanischen Kriegsmaschinerie, sondern als Peacekeeper.»

«Auf dem Schiff habe ich meine guten und meine schlechten Tage. Wenn ich arbeite, geht es mir blendend. In der Freizeit wünsche ich mir oft, ich wäre an Land.»

Zwischen Chaos und Ballett: Leben auf einem Flugzeugträger


Die elf Flugzeugträger der amerikanischen Navy sind ein «wichtiges strategisches Standbein» der US-Streitkräfte. Während eines Besuchs an Bord der «USS Kennedy» hatte die BaZ Gelegenheit, die Arbeit der Crew zu beobachten. Die «Kennedy» ist derzeit unterwegs in den Persischen Golf, wo sie die «USS Roosevelt» ablösen wird.

Die Wellen des Ozeans kommen näher und näher. Durch eine kleine Luke in der Flugzeugwand wird die Gischt erkennbar. In Rettungsweste, Helm und Brille sowie rückwärts sitzend, trifft mich der Aufprall mit voller Wucht: Ein kurzer Hüpfer, dann packt der Haken unter dem Flugzeugschwanz das an Bord gespannte Stahlseil. Die Fliehkraft drückt mich in den Sessel. Innert Sekunden bremst die C-2 Greyhound von über 100 Stundenkilometern auf Null ab.

Von Peter Schibli, an Bord der «USS Kennedy»

Eingehüllt in Wasserdampf und Abgase, kommt die Transportmaschine auf dem Flugdeck zum Stehen. Durch die sich öffnende Heckluke werden rote, grüne, gelbe und blaue Westen sichtbar. Gebannt starren die Gestalten auf den Neuankömmling. Ein weiss markierter Offizier signalisiert, den Helm und die Brille aufgesetzt zu lassen. Der feucht-heisse Luftdruck sowie der Lärm startender Maschinen wirken benebelnd. Zuvorkommend werde ich zu einem sicheren Raum im Schiffsinneren geleitet. Sicherheit wird gross geschrieben. Erst jetzt darf ich die Rettungsutensilien ablegen. «Willkommen in der schwimmenden Stadt», lautet der kurze Gruss des Public Affairs Officers, Jim Walker.

Gigantische Ausmasse

Die «USS Kennedy» zählt 5200 Mann Besatzung. Rund die Hälfte ist für die Versorgung, die Navigation sowie den Unterhalt zuständig. Die andere Hälfte betreut den Flugbetrieb. 85 Flugzeuge befinden sich an Bord, mehrheitlich F/A-18 Hornet, F-14 Tomcat und EA-6b Prowler. Zwei Helikopter halten sich zu Rettungseinsätzen bereit.

Das Flugdeck ist 315 Meter lang und 76 Meter breit. Insgesamt vier Seile werden nebeinander gespannt und fangen anfliegende Maschinen auf; dies geschieht in voller Fahrt. Das Schiff selbst fährt bis zu 30 Knoten (rund 50 Stundenkilometer) schnell. Jede Einzelheit ist überwältigend: Die vier Schrauben haben einen Durchmesser von je sieben Metern. Ein Anker wiegt 30 Tonnen.

Heimathafen ist Mayport (Florida). Seit ihrem Stapellauf im Jahr 1968 war die «Kennedy» an vielen wichtigen Operationen beteiligt: Kampfjets des Carriers schossen 1989 im Mittelmeer zwei libysche Maschinen ab. Im Januar 1991 war das Schiff vorübergehend Kommandozentrale der «Operation Desert Storm». Während des Golfkriegs schoss die Besatzung insgesamt 114 Cruise Missiles ab; ihre Piloten flogen 2900 Einsätze.

Admiral Michael Johnson kommandiert von der «Kennedy» aus die gesamte Schlachtgruppe, zu der zwei U-Boote, ein Zerstörer, ein Kreuzer sowie mehrere Versorgungs- und Landungsschiffe gehören. Im Gespräch mit der BaZ rühmt er die Besatzung in den höchsten Tönen: «Meine Jungs haben noch nie verloren. Sie sind hochmotiviert und professionell», lobt er und ergänzt: «Was auf den ersten Blick wie Chaos aussieht, ist in Wirklichkeit Ballett.»

Gleichzeitig gesteht Johnson ein, dass das Flugdeck ein «ausgesprochen gefährlicher Arbeitsplatz» ist. Wie geht der Kommandant mit dem Unfallrisiko um? Seine Antwort lautet: «Training, Training, Training.» Neben der technischen Ausbildung habe die «mentale Vorbereitung auf einen allfälligen Zwischenfall» einen «sehr hohen Stellenwert», betont er.

Flugzeugträger werden wichtiger

Flugzeugträger sind wegen ihrer Unabhängigkeit und Grösse wichtige militärstrategische Standbeine einer Militärmacht. Nach Aussage von Admiral Donald Pillig, Vize-Admiral der «US Naval Operations», werden künftige Konfrontationen mit Diktatoren und Despoten nicht von Landarmeen, sondern von der Navy und der Air Force gewonnen.

Bisher galt die Doktrin, dass die US-Streitkräfte maximal in zwei regionale Konflikte involviert sein können. Neu werden auch Engagements in drei oder vier Regionalkriegen für möglich gehalten. Dies hat Folgen: Pentagon-Planer sowie Mitglieder des Militärausschusses im Kongress sind der Ansicht, dass die Navy mehr Flugzeugträger braucht. Derzeit besitzt sie elf; zwei weitere sind im Bau.

Das Leben an Bord der «schwimmenden Stadt» lässt sich am besten während eines Rundgangs beobachten. Zuoberst im Turm überwacht der Air-Boss den Luftverkehr. Pausenlos starten und landen Maschinen. Die Kampfflieger sind Teil des Manövers. Laut Szenario führen zwei fiktive Staaten, Korona und Kartuna, Krieg gegeneinander. Die «USS Kennedy» hat den Auftrag, Korona sowie deren Verbündete zu schützen.

Von der Funkbrücke aus leiten Air-Boss Dan Onakage sowie Mini-Boss Greg Novak den gesamten Luftverkehr. Fein säuberlich protokollieren Helfer die einzelnen Bewegungen. Unten auf dem Flugdeck bereiten Mechaniker wartende Maschinen für den Start vor. Mit Handzeichen verständigt sich die Deck-Crew mit den Piloten.

Riesiger Bedarf an Treibstoff

Eine Etage tiefer, auf der Kommando-Brücke, überwacht der Kapitän das Auftanken des Flugzeugträgers. 1,9 Millionen Gallonen Treibstoff (rund 7,2 Millionen Liter) werden von einem Tankschiff auf die «USS Kennedy» gepumpt. Der Steuermann hält Kurs, während der Funker mit seinem Kollegen auf dem Tankschiff kommuniziert.

Auch im Hangar, im Maschinenraum sowie in den Labors herrscht professionelle Hektik. In der Küche werden täglich 15 600 Mahlzeiten zubereitet. Zusätzlich braucht es pro Tag 800 Laib Brot. Die Vorräte im Wert von 3,3 Millionen Dollar reichen für 80 Tage. Food-Direktor Don Homes verweist auf die grosse Auswahl: Neben Gemüse, Fleisch und Milchprodukten liebt die Besatzung Pizza oder Burger. «Ein leckeres Essen garantiert eine gut gelaunte Mannschaft», berichtet Homes.

An der Verpflegung dürfte es nicht liegen, dass die Navy, genau wie die US-Army und die Air Force, an Nachwuchsmangel leidet. 22 000 von insgesamt 375 000 Navy-Stellen sind unbesetzt. Präsident Clinton hat dem Kongress eine generelle Salärerhöhung von 9,9 Prozent beantragt. «Das Leben auf See ist nicht jedermanns Sache», weiss Admiral Johnson. Der Kontakt zur Familie leidet. Einsamkeit und Heimweh können Neulinge überwältigen. Colleges bieten lukrative Stipendien. Die Konjunktur läuft gut: Statt bei der Navy sucht man sich lieber einen Job in der Privatwirtschaft.


«Kampfpiloten sind aggressive Persönlichkeiten»

ps. Eller Ajello sitzt im Warteraum des 86. Kampfgeschwaders. Der F/A-18-Pilot wartet auf seinen nächsten Einsatz. Auf Monitoren ist die Tagesschau des US-Senders CBS zu sehen. Ein anderer Bildschirm zeigt das Flugdeck der «USS Kennedy» aus verschiedenen Perspektiven. Unter Getöse wird gerade ein Jet von Bord katapultiert.

Pausenlos klingeln Telefone. Über Lautsprecher sind Funksprüche der Flugkontrolle, des «War Room» und der Piloten zu hören: «101 take-off.» «Confirmed.» «101 airborn.» «Mission 35.25 North, 46.89 West.» «Confirmed.» «Target 46.39 South, 11.99 East.» «Confirmed.»

«Ruhe dich aus»

Im bequemen Armsessel döst Leutnant Ajello vor sich hin. Aus einer Kaffeemaschine blubbert eine schwarze Brühe in einen Krug. An der Wand hängen Einsatzpläne, Wettermeldungen, Flugrapporte, technische Berichte und einige Karikaturen. «Ruh dich aus, so oft du kannst», lautet die Empfehlung auf einem Banner.

Ajello ist 29-jährig, verheiratet und gehört der Navy seit 1993 an. Dank ihr hat er seinen Bubentraum verwirklicht: Seit drei Jahren fliegt der grossgewachsene Italo-Amerikaner auf der «USS Kennedy» Kampfjets. «Wir Piloten sind aggressive Persönlichkeiten», erklärt er dem Besucher. «Wir attackieren unsere Ziele wie Hunde die Katzen.» Nach sechsjähriger Flugpraxis kennt er Todesangst nur noch nachts, und auch dies nur unter besonders gefährlichen Umständen. «Tagsüber auf der ‹Kennedy› zu landen, macht richtig Spass», meint er und ergänzt scherzend: «Bezahlt werden wir für die Nachtlandungen.» Schlechte Erinnerungen hegt er an jene Nacht, in der er dreimal hintereinander durchstarten musste: «Anschliessend schickte mich der Air-Boss zur Erholung auf einen Landflughafen. Die Rückkehr aufs Schiff war eine überaus peinliche Erfahrung.» Auf einen Unfalltod oder eine Gefangennahme nach einem Abschuss fühlt sich Ajello ausreichend vorbereitet. «Wir leben mit dem Crash-Risiko und machen uns täglich unsere Gedanken.» Die totale Überlegenheit der US-Waffensysteme gebe ihm Selbstvertrauen, erklärt der Pilot, der während der Operation «Southern Watch» 1997 viereinhalb Monate lang «Erfahrung in einer feindlichen Umgebung» sammeln konnte.

Das Bordleben ist zur Routine geworden: Schlafen, Essen, Pikettdienst, Fliegen, Freizeit, Schlafen … Nach der Tagwacht und dem Frühstück absolviert Ajello ein erstes Briefing. Eine halbe Stunde später begutachtet er sein Flugzeug im Hangar. Dabei stellt er einen Defekt fest und beauftragt einen Mechaniker mit der Reparatur.

Um 9.30 Uhr steigt er auf dem Flugdeck in seine angeblich geflickte Maschine. Beim «Andocken» stellt die Crew fest, dass die Katapulthalterung nach wie vor klemmt. Aussteigen und zurück in den Hangar, lautet das Kommando. Während sich die Spezialisten des Problems annehmen, legt sich der Pilot für zwei Stunden aufs Ohr.

Nach dem Mittagessen klappt es mit dem Start. Ausgeruht fliegt Ajello vor der Küste South Carolinas einen Doppeleinsatz, tankt zweimal in der Luft auf und kehrt erst gegen 18 Uhr auf den Flugzeugträger zurück. Dem Abendessen folgen ein Abschluss-Briefing sowie ein Training im Kraftraum. Kurz vor Mitternacht, während der nächsten Pikettphase, findet er dann Zeit für das Gespräch mit der BaZ.

Ohne Familie und Freunde

Feldweibel Barbara Smith arbeitet im Elektronikraum. Die Fiber-Optik-Spezialistin ist gerade dabei, ein defektes Satellitenradar (Global-Positioning-System, GPS) zu flicken. Die 28-jährige ist seit elf Jahren bei der Navy. «Auf dem Schiff habe ich meine guten und meine schlechten Tage. Wenn ich arbeite, geht es mir blendend; in der Freizeit wünsche ich mir oft, ich wäre an Land.» Barbara vermisst ihre Eltern in Pennsylvania sowie ihre Freunde.

Zur Navy ging sie aus Karrieregründen: «In einigen Jahren möchte ich an ein College geschickt werden und dort ein Elektronik-Diplom machen. Wenn ich nach 25 Dienstjahren pensioniert werde, suche ich mir einen zweiten Job, entweder bei der Flugüberwachung oder bei der Flugaufsichtsbehörde FAA», träumt sie.

Trotz mehrerer Beziehungen hat sie den richtigen Mann fürs Leben noch nicht gefunden. Das Schiff ist für die Partnersuche wohl auch nicht der optimale Ort. «Positive Entwicklungen» festgestellt hat sie immerhin in Sachen «sexueller Belästigung»: «Heute werde ich von der mehrheitlich männlichen Besatzung viel weniger angemacht als vor zehn Jahren», berichtet Barbara. Sie führt dies primär auf das Training und die erhöhte Aufmerksamkeit zurück, die dem Thema beim Militär geschenkt wird.

Angst vor dem Tod hat die junge Frau nicht. Im vergangenen Jahr verbrachte sie sechs Monate im Persischen Golf. Auch der neue Einsatz der «USS Kennedy» in der Golfregion lässt sie kalt: «Wir sind auf alle möglichen Zwischenfälle vorbereitet. Ausserdem ist unser Schiff hervorragend geschützt. Ich bin sicher, dass es Saddam Hussein nicht wagt, uns anzugreifen.»

Nicht Teil der Kriegsmaschinerie

Eine ähnliche Einstellung wird bei Edward Crawford spürbar: «Die ‹USS Kennedy› ist ein unsinkbares Schiff und ein idealer Arbeitsplatz zugleich», meint er. Der 19-Jährige aus dem Bundesstaat Mississippi kam vor einem Jahr an Bord und leistet seither als Gehilfe im Büro des Schiffssekretärs Dienst: Er tippt Protokolle, schreibt Tagesbefehle und verschickt Pakete. Während unseres Gesprächs ist er gerade mit dem Verschnüren der «Trauerfahne» beschäftigt, die an die Kennedy-Familie gesandt wird. Die Flagge war während einer Schweigeminute aus Anlass des tragischen Unfalls von John Kennedy jr. auf Halbmast gesetzt worden.

Crawford, dessen Grossvater zur See fuhr, meldete sich unmittelbar nach der High School zum Militärdienst, weil er nicht seiner Mutter zur Last fallen wollte. Die finanzielle Hypothek für die sieben restlichen Kinder sei hoch genug, findet er. So zog der junge Farbige aus, um bei der Navy eine Ausbildung zu erhalten. Verpflichtet hat er sich für vier Jahre, in der Hoffnung, anschliessend an ein College geschickt zu werden.

Die Bezahlung ist schlecht

Die Diskriminierung auf dem Schiff bezeichnet er als «minimal». Die Hautfarbe sei «weder für Vorgesetzte noch für Kameraden ein Thema». Die Bezahlung indes könnte besser sein. Crawford verdient 850 Dollar monatlich. Von diesem Geld muss er die Uniform bezahlen. Den Rest schickt er seiner Mutter. «Für die Ausbildung meiner Geschwister», wie er stolz erzählt.

Der Dienst auf einem Kriegsschiff scheint für ihn Einstellungssache. Selbstverständlich möchte er später in einem zivilen Job arbeiten. Für den Moment aber besitzt er keine Alternative. Trotzdem: «Ich verstehe mich nicht als Teil der amerikanischen Kriegsmaschinerie, sondern als Peacekeeper.»

«Auf dem Schiff habe ich meine guten und meine schlechten Tage. Wenn ich arbeite, geht es mir blendend. In der Freizeit wünsche ich mir oft, ich wäre an Land.»

Donnerstag, Dezember 21, 2006

Amerika steht für Pioniergeist, Vielfalt und Pragmatismus


Die USA werden zuweilen abschätzig identifiziert mit McDonald's, Puritanismus und Oberflächlichkeit. In einer Schlussbilanz beschreibt unser Washingtoner Korrespondent, warum die Nation nach seiner Ansicht auf Pioniergeist, Vielfalt, Lebenslust und Pragmatismus gebaut ist. «Auf der Suche nach Amerika»: Ein Streifzug durch Neu-England.

Microsoft, Netscape, Yahoo und Amazon.com, die Mega-Unternehmen der amerikanischen New Economy, sind erst wenige Jahre alt. Aber im Grunde genommen hat die Erfolgsgeschichte der Internet-Industrie 1620 in Plymouth (Bundesstaat Massachusetts) begonnen. Nirgendwo wird die offene Unternehmenskultur, die Risikobereitschaft, der Pioniergeist deutlicher als auf der Plymouth-Plantation: In der zwischen Boston und Cape Code gelegenen Einwanderersiedlung begannen die auf der «Mayflower» übers Meer gekommenen Pilgerväter vor 380 Jahren ein neues Leben. In historischen Kostümen zeigen deren Nachfahren, wie die Pioniere Hütten bauten, Essbares pflanzten und Grütze kochten. «Damit mein Mais besser gedeiht, lege ich einen Hering in die Erde», erläutert Bauer Cookes in Alt-Schottisch.

Von Peter Schibli, Washington

Armut, hohe Steuern, Diskriminierung und religiöse Verfolgung hatten die Siedler über den Atlantik getrieben. Unzureichend ausgerüstet und von brutalen Naturgewalten, feindlichen Indianerstämmen und einem harten Alltag herausgefordert, kämpften sie um das Überleben. Innovativ gründeten die Abenteurer neue Betriebsformen, schlossen sich zu Bürgerräten zusammen und verteidigten das Erarbeitete verbissen gegen die britische Krone. Genau diese Härte, die unstillbare Sehnsucht nach Unabhängigkeit, der unzerstörbare Optimismus und die beachtliche Risikobereitschaft sind Teil des «American Spirit». Ohne die Kraft und die Erfolgsgeschichte der Pilgerväter wäre Amerika nie das geworden, was es heute ist: eine Weltmacht und Wirtschaftslokomotive.

Selbstverständlich gilt dieser Anspruch nicht absolut. Auf der Plymouth-Plantation wird klar, wie rücksichtslos die weissen Einwanderer mit der Urbevölkerung, den Indianern, umgingen. Am Eel-River duldete man die «Rothäute» nur im Wampanoag-Dorf. In der Schwestersiedlung Jamestown (Virginia) und im Westen des Landes wurden die Indianer gnadenlos vertrieben, bekämpft oder ermordet. Eine faire Kompensation für das erlittene Unrecht bleibt den Ureinwohnern bis heute vorenthalten. Diese Hypothek lastet schwer auf Amerikas «heldenhafter Geschichte», obwohl die meisten US-Bürger dies nicht wahrhaben wollen.

Einwanderungswellen

Ebenso fundamental wie der Pioniergeist war die Einwanderung von 50 Millionen Menschen zwischen 1820 und 1985. 38 Millionen kamen allein aus Europa. Das 12 000-Seelen-Dorf Manville im nördlichen New Jersey steht stellvertretend für diese Entwicklung: An der Stadtgrenze zu New York haben sich Russen, Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Polen und Balten niedergelassen. Die Hälfte der Bevölkerung stammt aus Osteuropa.

Die meisten «Manviller» sind bei einem örtlichen Industriebetrieb beschäftigt. Der Multi Johnson&Johnson gibt dem gebürtigen Polen Anthony Dmochowski Arbeit. Der Handwerker lebt ein Leben, das in seiner Heimat so nicht möglich wäre. Dank Zusatzeinkommen der Ehefrau und zahllosen Überstunden kann die Familie Dmochowski im eigenen Haus wohnen und der Tochter ein Wirtschaftsstudium an einer bekannten Universität bezahlen. Mit dem Rest hat sich Anthony in Pennsylvania ein Ferienhäuschen mit Seeanstoss gekauft. Der «American Dream» ging für ihn in Erfüllung. Sohn Robert, jugendliches Beispiel des «Melting Pot», hat mit dem Heimatland seines Vaters nicht mehr viel gemeinsam. Mit Leib und Seele ist der 17-Jährige patriotischer Amerikaner. In wenigen Wochen beginnt er die Rekrutenschule als Marine-Soldat. Im Anschluss an die vierjährige Ausbildung will er auf Staatskosten studieren und «seinem Land treu dienen».

Weisse bald als Minderheit

Manville gleicht einem slawisch-amerikanischen Klon: Polnische und russische Restaurants stehen neben WalMart, Kentucky-Fried-Chicken und Home Depot. Am Sonntagmorgen gehen die Dmochowskis in die Kirche, wo ein polnischer Priester eine Messe zelebriert. Selbstverständlich sprechen alle Polnisch. «Hier lässt sichs leben. Hier gibt es immer genug zu essen. Das Fernsehprogramm ist abwechslungsreich, und mein Dach über dem Kopf hält dem Regen stand», freut sich Schwiegervater Boleslaw Skwira. Der 82-Jährige war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen, wo seine Familie zuerst von den Russen und dann von den Deutschen vertrieben wurde, in die USA geflohen. Freiheit ist für ihn keine Worthülse: In Manville hat er Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gefunden.

Indes: In vielen Städten und Regionen verändert sich der Mix der ethnischen Vielfalt. Seit Beginn der achtziger Jahre wandern hauptsächlich Latinos und Asiaten ein. Die Weissen werden langsam, aber sicher zu einer eigenen Minderheit. Vorausgesetzt, die Zuwanderung hält an, dürften die USA ab der Mitte des Jahrhunderts eine Nation von Minderheiten sein, prognostizieren die Demoskopen. Damit verbunden ist die Verschiebung vom «Melting Pot», in dem sich die Einwanderer bisher an die amerikanischen Gepflogenheiten anpassten, zur «Salad Bowl», zur Salatschüssel. Die neu immigrierenden Latinos und Asiaten drängen darauf, ihre individuellen Bräuche zu pflegen. Den «American Way of Life» lehnen sie ab. Diese Entwicklung könnte in den kommenden Jahrzehnten zu erheblichen sozialen und politischen Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen führen.

Polizeigewalt am Broadway

Spürbar ist die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas bereits heute in New York City, wo Vertreter der unterschiedlichen Klassen um Macht und Einfluss ringen. Unüberhörbar sind derzeit die Schwarzen, die unter Führung des Bürgerrechtlers Al Sharpton regelmässig gegen Polizeibrutalität, Diskriminierung und Verarmung demonstrieren. Während wir über den Broadway schlendern, zeigt die Staatsmacht ihre Muskeln: Mehrere hundert Polizisten nehmen 27 Farbige fest, welche den Times Square besetzt halten. Das «Vergnügungsviertel» Manhattans repräsentiert die amerikanische Verschwendungs- und Konsumgesellschaft. Wer über genügend Geld verfügt, kann in einem der schillernden Theater eine Revue sehen oder an der 47. Strasse Juwelen kaufen. «Having fun durch Konsum» gilt hier rund um die Uhr.

Obdachlose, Bettler und Geisteskranke dagegen werden systematisch aus Manhattan vertrieben, damit die Luxusgesellschaft an dem Elend nicht Anstoss nehmen muss. Doch die Vorzeigepolitik von Bürgermeister Rudy Giuliani ist verlogen und verdrängt die bestehenden Probleme nur. Wenige Stunden nach ihrer «Deportation» tauchen die Obdachlosen und Bettler nämlich wieder in Manhattan auf. Andere ziehen in die Aussenquartiere und werden dort zum «Stein des Anstosses». Die von «Saubermann» Giuliani bekämpften Sex-Shops ändern ihre Logos und Lokalitäten, um kurz darauf in einer anderen Avenue wieder Geschäfte zu machen.

Entwicklung in Harlem

Viel versprechend ist die Entwicklung im Stadtteil Harlem: In den vergangenen drei Jahren wurden zahlreiche der heruntergekommenen Brownstone-Häuser renoviert und verkauft. Geschäftsleute und Familien mit Kindern sind eingezogen. Dadurch haben die Strassen an Lebensqualität gewonnen. Die Kriminalität konnte zurückgedrängt werden. Gunilla Perez-Faringer, eine schwedische Journalistin, erstand 1992 in Hamilton Heights ein Mehrfamilienhaus, baute dieses um und vermietet heute vier der fünf Wohnungen an Touristen. «Harlem hat mich immer fasziniert. Der Stadtteil ist untrennbar mit Jazz, Kunst und Kultur verbunden», schwärmt sie.

Zufrieden mit seinem Leben ist auch Michael Wainwright: «Wer seine Fantasie und die vor ihm liegenden Gelegenheiten nutzt, kann es weit bringen», philosophiert der junge Töpfer. Im Stadtteil Brooklyn betreibt er in einer alten Fabrik ein eigenes Studio. Der 35-Jährige hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Tag für Tag produziert er exklusive Teller, Tassen, Untersätze und Schüsseln. Seine Markenzeichen sind der Gold-, Silber- und Platin-Rand. Auch Michael träumt den amerikanischen Traum: Wenn sein Geschäft in den kommenden Jahren weiter so gut läuft, möchte er junge Töpfer anstellen und sich auf das Design und Marketing seiner Produkte konzentrieren. «Ich bin nicht nur Künstler, sondern auch Unternehmer. Meine Firma soll wachsen», meint er optimistisch.

Glace aus Vermont

Dass sich Unternehmergeist auszahlt, erleben wir in Vermont: Auf einer Führung durch die Glace-Fabrik Ben&Jerry's in Waterbury lernen wir die Firmengeschichte kennen: Ben Cohen und Jerry Greenfield, die beiden Gründer, lernten sich zu Beginn der siebziger Jahre als Schüler kennen. 1977 zogen sie nach Vermont und eröffneten nach erfolgreicher Absolvierung eines Fernlehrganges einen Glace-Laden. In einer alten Tankstelle in Burlington testeten sie neue Geschmacksstoffe. Dabei entstand ein Qualitätseis, das heute auch in Europa Anklang findet. 1985 stieg der Geschäftsumsatz auf 20 Millionen Dollar. Der Bau einer neuen Fabrik wurde notwendig. Der Bau in Waterbury legte den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg. 1992 wuchs der Umsatz auf 131 Millionen, 1997 auf 197 Millionen und 700 Mitarbeiter. Im letzten Winter wurde Ben&Jerry's für 326 Millionen Dollar an den holländischen Unilever-Konzern verkauft. Ist die Belegschaft schockiert? «Solange wir Arbeit haben und Qualitätseis herstellen, ist es uns egal, wo unser Boss sitzt», erklärt eine Angestellte.

Immerhin: Ben Cohen und Jerry Greenfield sind ihrem Versprechen treu geblieben. Die beiden Jungunternehmer, die es dank Innovation und harter Arbeit zu Millionären gebracht haben, finanzieren eine «Stiftung zum Schutz der Kinder». 7,5 Prozent des Jahresgewinns fliessen in die Stiftungskasse. Damit eifern sie namhaften Philantropen nach, die Millionenbeträge für wohltätige Zwecke lockermachen.

In Burlington treffen wir Gene Pawlikowski, der vor einigen Monaten von Washington D.C. in den hohen Norden gezogen ist. «In Vermont regieren Vernunft und Pragmatismus. Hier gibt es keine politischen Grabenkämpfe», bilanziert der Ziegelsteinverkäufer seine ersten Eindrücke und ergänzt: «In Vermont lehnt man ein Wachstum um jeden Preis ab.» In der Tat: Grossverteiler wie Target oder WalMart haben hier einen schweren Stand. Das lokale Gewerbe wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die Mega-Ketten und wird vom Gesetzgeber darin unterstützt. Auch bezüglich Umweltschutz ist Vermont fortschrittlicher als andere Bundesstaaten: Recycling ist hier kein Fremdwort. Wer den Lake Champlain verschmutzt, wird bestraft. Der Bau neuer Skigebiete ist mit strengen Auflagen verbunden.

Das beste Beispiel für «politischen Pragmatismus» lieferte vor drei Monaten das Vermont-Parlament: Während in anderen Bundesstaaten hitzig über eine Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gestritten wird, hat der Gesetzgeber im April ein Dekret verabschiedet, das die «Civil Union» für rechtens erklärt. Der Begriff Schwulen-Ehe wurde bewusst vermieden. «Hier handelt man mit kühlem Kopf und legalisiert, was ohnehin schon Realität ist», kommentiert Pawlikowski.

Sport als Religion

Was wäre ein Streifzug durch Amerika ohne einen Zwischenhalt beim Thema Baseball? Dass neben der römischen Maxime «Brot und Spiele» Sport in den USA Religionscharakter hat, wird uns in der «Baseball Hall of Fame» bewusst. Das «Heiligtum» aller Baseballspieler befindet sich in Cooperstown (Bundesstaat New York). In dem Museum, das einer Kathedrale gleicht, sind die Baseball-Legenden aller Zeiten verewigt. Kupferne Abbilder der Helden prangen mit Text und Lebensdaten im «Seitenschiff». Im «Altarbereich» wird das Home-Run-Derby zwischen Mark McGuire und Samy Sosa gefeiert. Andächtig-religiös ist die Stimmung in der «Ruhmeshalle»: Tief ergriffen bestaunen die Fans die Reliquien ihrer Idole. Historische Bats, Bälle und Schuhe erinnern an gewonnene Spiele.

Kontrovers, aber innovativ

Die Sportart hat - neben dem Leistungselement - viel Patriotisches an sich: Amerikanische Väter pflegen mit ihren Söhnen sonntags im «Backyard» zu spielen oder gemeinsam mit der Familie das Derby des Lokalfavoriten zu besuchen. Die amerikanische Nationalflagge wird dabei ebenso geachtet wie die Werte Respekt, Fairness und Disziplin. Wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball nie persönlich in einem «Ballpark» erlebt hat, kann wohl Amerika nicht vollständig verstehen.

Die USA sind ein widersprüchliches Land: In Europa gängige Clichés wie McDonald's, Puritanismus oder Oberflächlichkeit werden der Realität nicht gerecht. Amerika ist mehr als Fast Food, unverzichtbare Weltmacht oder gelbe Schulbusse. Amerika ist vielfältig, innovativ, kontrovers und voller innerer Gegensätze. Amerika ist nicht besser oder schlechter als Europa. Amerika ist anders.

Die USA ohne Baseball - unvorstellbar. Baseball ist Leistung, Baseball ist Patriotismus. Der Sport hat schon beinahe Religionscharakter.Vollständig verstehen, so die Meinung unseres langjährigen USA-Korrespondenten, kann das Land wohl nur, wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball persönlich miterlebt hat.

Wechsel in Washington

BaZ. Mit diesem Text verabschiedet sich Peter Schibli vom Washingtoner Korrespondentenposten der Basler Zeitung. Fünf Jahre lang hat Schibli innen- wie aussenpolitische Vorgänge und Entwicklungen in den USA beobachtet und in Berichten, Kommentaren, Reportagen oder Hintergrundbeiträgen festgehalten. Schibli, der 1989 bis 1995 als Deutschland-Korrespondent gearbeitet hatte, kehrt nach Basel zurück und wird in der Redaktion neue Aufgaben übernehmen. Die Nachfolge in Washington wird im Juli Dieter Ostermann antreten, der für die BaZ früher aus Moskau berichtet hat. (Juni 2000)

Amerika steht für Pioniergeist, Vielfalt und Pragmatismus


Die USA werden zuweilen abschätzig identifiziert mit McDonald's, Puritanismus und Oberflächlichkeit. In einer Schlussbilanz beschreibt unser Washingtoner Korrespondent, warum die Nation nach seiner Ansicht auf Pioniergeist, Vielfalt, Lebenslust und Pragmatismus gebaut ist. «Auf der Suche nach Amerika»: Ein Streifzug durch Neu-England.

Microsoft, Netscape, Yahoo und Amazon.com, die Mega-Unternehmen der amerikanischen New Economy, sind erst wenige Jahre alt. Aber im Grunde genommen hat die Erfolgsgeschichte der Internet-Industrie 1620 in Plymouth (Bundesstaat Massachusetts) begonnen. Nirgendwo wird die offene Unternehmenskultur, die Risikobereitschaft, der Pioniergeist deutlicher als auf der Plymouth-Plantation: In der zwischen Boston und Cape Code gelegenen Einwanderersiedlung begannen die auf der «Mayflower» übers Meer gekommenen Pilgerväter vor 380 Jahren ein neues Leben. In historischen Kostümen zeigen deren Nachfahren, wie die Pioniere Hütten bauten, Essbares pflanzten und Grütze kochten. «Damit mein Mais besser gedeiht, lege ich einen Hering in die Erde», erläutert Bauer Cookes in Alt-Schottisch.

Von Peter Schibli, Washington

Armut, hohe Steuern, Diskriminierung und religiöse Verfolgung hatten die Siedler über den Atlantik getrieben. Unzureichend ausgerüstet und von brutalen Naturgewalten, feindlichen Indianerstämmen und einem harten Alltag herausgefordert, kämpften sie um das Überleben. Innovativ gründeten die Abenteurer neue Betriebsformen, schlossen sich zu Bürgerräten zusammen und verteidigten das Erarbeitete verbissen gegen die britische Krone. Genau diese Härte, die unstillbare Sehnsucht nach Unabhängigkeit, der unzerstörbare Optimismus und die beachtliche Risikobereitschaft sind Teil des «American Spirit». Ohne die Kraft und die Erfolgsgeschichte der Pilgerväter wäre Amerika nie das geworden, was es heute ist: eine Weltmacht und Wirtschaftslokomotive.

Selbstverständlich gilt dieser Anspruch nicht absolut. Auf der Plymouth-Plantation wird klar, wie rücksichtslos die weissen Einwanderer mit der Urbevölkerung, den Indianern, umgingen. Am Eel-River duldete man die «Rothäute» nur im Wampanoag-Dorf. In der Schwestersiedlung Jamestown (Virginia) und im Westen des Landes wurden die Indianer gnadenlos vertrieben, bekämpft oder ermordet. Eine faire Kompensation für das erlittene Unrecht bleibt den Ureinwohnern bis heute vorenthalten. Diese Hypothek lastet schwer auf Amerikas «heldenhafter Geschichte», obwohl die meisten US-Bürger dies nicht wahrhaben wollen.

Einwanderungswellen

Ebenso fundamental wie der Pioniergeist war die Einwanderung von 50 Millionen Menschen zwischen 1820 und 1985. 38 Millionen kamen allein aus Europa. Das 12 000-Seelen-Dorf Manville im nördlichen New Jersey steht stellvertretend für diese Entwicklung: An der Stadtgrenze zu New York haben sich Russen, Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Polen und Balten niedergelassen. Die Hälfte der Bevölkerung stammt aus Osteuropa.

Die meisten «Manviller» sind bei einem örtlichen Industriebetrieb beschäftigt. Der Multi Johnson&Johnson gibt dem gebürtigen Polen Anthony Dmochowski Arbeit. Der Handwerker lebt ein Leben, das in seiner Heimat so nicht möglich wäre. Dank Zusatzeinkommen der Ehefrau und zahllosen Überstunden kann die Familie Dmochowski im eigenen Haus wohnen und der Tochter ein Wirtschaftsstudium an einer bekannten Universität bezahlen. Mit dem Rest hat sich Anthony in Pennsylvania ein Ferienhäuschen mit Seeanstoss gekauft. Der «American Dream» ging für ihn in Erfüllung. Sohn Robert, jugendliches Beispiel des «Melting Pot», hat mit dem Heimatland seines Vaters nicht mehr viel gemeinsam. Mit Leib und Seele ist der 17-Jährige patriotischer Amerikaner. In wenigen Wochen beginnt er die Rekrutenschule als Marine-Soldat. Im Anschluss an die vierjährige Ausbildung will er auf Staatskosten studieren und «seinem Land treu dienen».

Weisse bald als Minderheit

Manville gleicht einem slawisch-amerikanischen Klon: Polnische und russische Restaurants stehen neben WalMart, Kentucky-Fried-Chicken und Home Depot. Am Sonntagmorgen gehen die Dmochowskis in die Kirche, wo ein polnischer Priester eine Messe zelebriert. Selbstverständlich sprechen alle Polnisch. «Hier lässt sichs leben. Hier gibt es immer genug zu essen. Das Fernsehprogramm ist abwechslungsreich, und mein Dach über dem Kopf hält dem Regen stand», freut sich Schwiegervater Boleslaw Skwira. Der 82-Jährige war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen, wo seine Familie zuerst von den Russen und dann von den Deutschen vertrieben wurde, in die USA geflohen. Freiheit ist für ihn keine Worthülse: In Manville hat er Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gefunden.

Indes: In vielen Städten und Regionen verändert sich der Mix der ethnischen Vielfalt. Seit Beginn der achtziger Jahre wandern hauptsächlich Latinos und Asiaten ein. Die Weissen werden langsam, aber sicher zu einer eigenen Minderheit. Vorausgesetzt, die Zuwanderung hält an, dürften die USA ab der Mitte des Jahrhunderts eine Nation von Minderheiten sein, prognostizieren die Demoskopen. Damit verbunden ist die Verschiebung vom «Melting Pot», in dem sich die Einwanderer bisher an die amerikanischen Gepflogenheiten anpassten, zur «Salad Bowl», zur Salatschüssel. Die neu immigrierenden Latinos und Asiaten drängen darauf, ihre individuellen Bräuche zu pflegen. Den «American Way of Life» lehnen sie ab. Diese Entwicklung könnte in den kommenden Jahrzehnten zu erheblichen sozialen und politischen Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen führen.

Polizeigewalt am Broadway

Spürbar ist die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas bereits heute in New York City, wo Vertreter der unterschiedlichen Klassen um Macht und Einfluss ringen. Unüberhörbar sind derzeit die Schwarzen, die unter Führung des Bürgerrechtlers Al Sharpton regelmässig gegen Polizeibrutalität, Diskriminierung und Verarmung demonstrieren. Während wir über den Broadway schlendern, zeigt die Staatsmacht ihre Muskeln: Mehrere hundert Polizisten nehmen 27 Farbige fest, welche den Times Square besetzt halten. Das «Vergnügungsviertel» Manhattans repräsentiert die amerikanische Verschwendungs- und Konsumgesellschaft. Wer über genügend Geld verfügt, kann in einem der schillernden Theater eine Revue sehen oder an der 47. Strasse Juwelen kaufen. «Having fun durch Konsum» gilt hier rund um die Uhr.

Obdachlose, Bettler und Geisteskranke dagegen werden systematisch aus Manhattan vertrieben, damit die Luxusgesellschaft an dem Elend nicht Anstoss nehmen muss. Doch die Vorzeigepolitik von Bürgermeister Rudy Giuliani ist verlogen und verdrängt die bestehenden Probleme nur. Wenige Stunden nach ihrer «Deportation» tauchen die Obdachlosen und Bettler nämlich wieder in Manhattan auf. Andere ziehen in die Aussenquartiere und werden dort zum «Stein des Anstosses». Die von «Saubermann» Giuliani bekämpften Sex-Shops ändern ihre Logos und Lokalitäten, um kurz darauf in einer anderen Avenue wieder Geschäfte zu machen.

Entwicklung in Harlem

Viel versprechend ist die Entwicklung im Stadtteil Harlem: In den vergangenen drei Jahren wurden zahlreiche der heruntergekommenen Brownstone-Häuser renoviert und verkauft. Geschäftsleute und Familien mit Kindern sind eingezogen. Dadurch haben die Strassen an Lebensqualität gewonnen. Die Kriminalität konnte zurückgedrängt werden. Gunilla Perez-Faringer, eine schwedische Journalistin, erstand 1992 in Hamilton Heights ein Mehrfamilienhaus, baute dieses um und vermietet heute vier der fünf Wohnungen an Touristen. «Harlem hat mich immer fasziniert. Der Stadtteil ist untrennbar mit Jazz, Kunst und Kultur verbunden», schwärmt sie.

Zufrieden mit seinem Leben ist auch Michael Wainwright: «Wer seine Fantasie und die vor ihm liegenden Gelegenheiten nutzt, kann es weit bringen», philosophiert der junge Töpfer. Im Stadtteil Brooklyn betreibt er in einer alten Fabrik ein eigenes Studio. Der 35-Jährige hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Tag für Tag produziert er exklusive Teller, Tassen, Untersätze und Schüsseln. Seine Markenzeichen sind der Gold-, Silber- und Platin-Rand. Auch Michael träumt den amerikanischen Traum: Wenn sein Geschäft in den kommenden Jahren weiter so gut läuft, möchte er junge Töpfer anstellen und sich auf das Design und Marketing seiner Produkte konzentrieren. «Ich bin nicht nur Künstler, sondern auch Unternehmer. Meine Firma soll wachsen», meint er optimistisch.

Glace aus Vermont

Dass sich Unternehmergeist auszahlt, erleben wir in Vermont: Auf einer Führung durch die Glace-Fabrik Ben&Jerry's in Waterbury lernen wir die Firmengeschichte kennen: Ben Cohen und Jerry Greenfield, die beiden Gründer, lernten sich zu Beginn der siebziger Jahre als Schüler kennen. 1977 zogen sie nach Vermont und eröffneten nach erfolgreicher Absolvierung eines Fernlehrganges einen Glace-Laden. In einer alten Tankstelle in Burlington testeten sie neue Geschmacksstoffe. Dabei entstand ein Qualitätseis, das heute auch in Europa Anklang findet. 1985 stieg der Geschäftsumsatz auf 20 Millionen Dollar. Der Bau einer neuen Fabrik wurde notwendig. Der Bau in Waterbury legte den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg. 1992 wuchs der Umsatz auf 131 Millionen, 1997 auf 197 Millionen und 700 Mitarbeiter. Im letzten Winter wurde Ben&Jerry's für 326 Millionen Dollar an den holländischen Unilever-Konzern verkauft. Ist die Belegschaft schockiert? «Solange wir Arbeit haben und Qualitätseis herstellen, ist es uns egal, wo unser Boss sitzt», erklärt eine Angestellte.

Immerhin: Ben Cohen und Jerry Greenfield sind ihrem Versprechen treu geblieben. Die beiden Jungunternehmer, die es dank Innovation und harter Arbeit zu Millionären gebracht haben, finanzieren eine «Stiftung zum Schutz der Kinder». 7,5 Prozent des Jahresgewinns fliessen in die Stiftungskasse. Damit eifern sie namhaften Philantropen nach, die Millionenbeträge für wohltätige Zwecke lockermachen.

In Burlington treffen wir Gene Pawlikowski, der vor einigen Monaten von Washington D.C. in den hohen Norden gezogen ist. «In Vermont regieren Vernunft und Pragmatismus. Hier gibt es keine politischen Grabenkämpfe», bilanziert der Ziegelsteinverkäufer seine ersten Eindrücke und ergänzt: «In Vermont lehnt man ein Wachstum um jeden Preis ab.» In der Tat: Grossverteiler wie Target oder WalMart haben hier einen schweren Stand. Das lokale Gewerbe wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die Mega-Ketten und wird vom Gesetzgeber darin unterstützt. Auch bezüglich Umweltschutz ist Vermont fortschrittlicher als andere Bundesstaaten: Recycling ist hier kein Fremdwort. Wer den Lake Champlain verschmutzt, wird bestraft. Der Bau neuer Skigebiete ist mit strengen Auflagen verbunden.

Das beste Beispiel für «politischen Pragmatismus» lieferte vor drei Monaten das Vermont-Parlament: Während in anderen Bundesstaaten hitzig über eine Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gestritten wird, hat der Gesetzgeber im April ein Dekret verabschiedet, das die «Civil Union» für rechtens erklärt. Der Begriff Schwulen-Ehe wurde bewusst vermieden. «Hier handelt man mit kühlem Kopf und legalisiert, was ohnehin schon Realität ist», kommentiert Pawlikowski.

Sport als Religion

Was wäre ein Streifzug durch Amerika ohne einen Zwischenhalt beim Thema Baseball? Dass neben der römischen Maxime «Brot und Spiele» Sport in den USA Religionscharakter hat, wird uns in der «Baseball Hall of Fame» bewusst. Das «Heiligtum» aller Baseballspieler befindet sich in Cooperstown (Bundesstaat New York). In dem Museum, das einer Kathedrale gleicht, sind die Baseball-Legenden aller Zeiten verewigt. Kupferne Abbilder der Helden prangen mit Text und Lebensdaten im «Seitenschiff». Im «Altarbereich» wird das Home-Run-Derby zwischen Mark McGuire und Samy Sosa gefeiert. Andächtig-religiös ist die Stimmung in der «Ruhmeshalle»: Tief ergriffen bestaunen die Fans die Reliquien ihrer Idole. Historische Bats, Bälle und Schuhe erinnern an gewonnene Spiele.

Kontrovers, aber innovativ

Die Sportart hat - neben dem Leistungselement - viel Patriotisches an sich: Amerikanische Väter pflegen mit ihren Söhnen sonntags im «Backyard» zu spielen oder gemeinsam mit der Familie das Derby des Lokalfavoriten zu besuchen. Die amerikanische Nationalflagge wird dabei ebenso geachtet wie die Werte Respekt, Fairness und Disziplin. Wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball nie persönlich in einem «Ballpark» erlebt hat, kann wohl Amerika nicht vollständig verstehen.

Die USA sind ein widersprüchliches Land: In Europa gängige Clichés wie McDonald's, Puritanismus oder Oberflächlichkeit werden der Realität nicht gerecht. Amerika ist mehr als Fast Food, unverzichtbare Weltmacht oder gelbe Schulbusse. Amerika ist vielfältig, innovativ, kontrovers und voller innerer Gegensätze. Amerika ist nicht besser oder schlechter als Europa. Amerika ist anders.

Die USA ohne Baseball - unvorstellbar. Baseball ist Leistung, Baseball ist Patriotismus. Der Sport hat schon beinahe Religionscharakter.Vollständig verstehen, so die Meinung unseres langjährigen USA-Korrespondenten, kann das Land wohl nur, wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball persönlich miterlebt hat.

Wechsel in Washington

BaZ. Mit diesem Text verabschiedet sich Peter Schibli vom Washingtoner Korrespondentenposten der Basler Zeitung. Fünf Jahre lang hat Schibli innen- wie aussenpolitische Vorgänge und Entwicklungen in den USA beobachtet und in Berichten, Kommentaren, Reportagen oder Hintergrundbeiträgen festgehalten. Schibli, der 1989 bis 1995 als Deutschland-Korrespondent gearbeitet hatte, kehrt nach Basel zurück und wird in der Redaktion neue Aufgaben übernehmen. Die Nachfolge in Washington wird im Juli Dieter Ostermann antreten, der für die BaZ früher aus Moskau berichtet hat. (Juni 2000)

Mittwoch, Dezember 20, 2006

Botschafter Jagmetti fürchtet um das Ansehen der Schweiz


1996 standen Sie im «Zentrum des Sturms»: Carlo Jagmetti, Schweizer Botschafter in Washington, und sein Pressesprecher, David Vogelsanger, wurden mit Fragen und Interview-Wünschen amerikanischer Medien zum Thema der jüdischen Vermögen geradezu überrollt. Wie ist die Stimmung in den USA? Die BaZ sprach mit Botschafter Jagmetti.


BaZ: Im Zusammenhang mit der Suche nach jüdischen Vermögen und dem Raubgold wirft der amerikanische Senator Alfonse D'Amato der Schweiz «Unehrlichkeit», «Täuschung» sowie «Widerspenstigkeit» vor. Welche Motive verfolgt der Politiker?

Carlo Jagmetti: Der Senator aus New York und sein Mitarbeiterstab sind seit Monaten ausgesprochen aktiv. Weil wir mitten in einem Wahljahr stecken, ist ein generelles politisches Interesse festzustellen. Senator D'Amato steht in zwei Jahren zur Wiederwahl an. Seine Popularität im Bundesstaat New York befindet sich gemäss Umfragen auf einem Tiefststand. Um wiedergewählt zu werden, muss er möglichst früh mit seiner Kampagne beginnen - vorausgesetzt, er kandidiert erneut. Da jüdische Wählerinnen und Wähler - traditionell eher Demokraten - in New York ein bedeutender politischer und wirtschaftlicher Faktor sind, ist das Thema der jüdischen Gelder wichtig.
Und sein Mitarbeiterstab?

Senator D'Amatos Mitarbeiter haben ein persönliches Interesse, sich durch einen aggressiven Arbeitsstil zu profilieren: Im amerikanischen System kommt und geht man mit dem Chef, der das tägliche Brot garantiert. Ausserdem kann ein Mitarbeiter seine Karrierechancen durch einen spektakulären Einsatz möglicherweise verbessern.

Wird auch aus anderen Kreisen Kritik an der Schweiz erhoben?

Grosses Interesse an dem Thema bekunden seit längerem der Jüdische Weltkongress sowie jüdische Organisationen. Aus dem US-Repräsentantenhaus haben sich fünf Abgeordnete gemeldet und im Rahmen einer normalen Erkundungstätigkeit ihr Interesse bekundet. Inzwischen ist auch die Regierung aktiv geworden: Das State Department hat einen Sonderbeauftragten für herrenlose Vermögen in Osteuropa eingesetzt und beim Historikerbüro eine Studie zu der Problematik in Auftrag gegeben.

Wie erklären Sie die Tatsache, dass die Vorwürfe in den amerikanischen Medien auf grosse Aufmerksamkeit stossen?
Ein wichtiger Grund ist zweifellos, dass mit der Vermögenssuche tiefe menschliche Emotionen verbunden sind: Holocaust-Überlebende, mehrheitlich Senioren, beklagen, von den Banken um ihr Familienvermögen geprellt worden zu sein.

Ein zweiter Faktor ist unser aller Kurzzeitgedächtnis: Nur die wenigsten können sich daran erinnern, dass bereits vor Jahrzehnten über die gesamte Materie verhandelt wurde. Die medienwirksame Überraschung, die jetzt täglich gespielt wird, wenn wieder ein «Archivfund» an die Öffentlichkeit kommt, ist - rein menschlich gesehen - verständlich. Institutionell ist sie jedoch nicht gerechtfertig.

Die Schweizer Archive sind offen. Viele der von Senator D'Amato präsentierten Dokumente werden in der historischen Literatur zum «Washingtoner Abkommen» ausführlich behandelt und waren der damaligen amerikanischen Verhandlungsdelegation bekannt. Von der Öffentlichkeit wurden sie nur nicht zur Kenntnis genommen.

Besitzt die Schweiz ein Nachholbedürfnis bezüglich Vergangenheitsbewältigung?

Bundesrat Villiger hat sich im Mai 1995 als Bundespräsident in seiner Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes bemüht, einen ehrlichen Schritt in diese Richtung zu tun. Diese wichtige Ansprache sowie die Öffnung der amerikanischen Archive mögen beide dazu beigetragen haben, dass auch im Ausland ein grosses Interesse an einer Aufarbeitung dieser Periode unserer Geschichte entstanden ist.

Erfolgt die Fortsetzung der Aufarbeitung freiwillig, oder wurde sie durch Druck aus dem Ausland erzwungen?

Schweizer Historiker haben von sich aus wesentliche Beiträge geleistet. Was die jüdischen Gelder betrifft, wurde die Einsetzung der Volcker-Kommission sowie der Bundesbeschluss über eine nationale Historikerkommission zweifellos durch Druck von aussen beschleunigt. Inwiefern die Bankiervereinigung durch ihre erste Untersuchung zu diesem Druck beigetragen hat, bleibt abzuklären. Gewiss wurden psychologische Ungeschicklichkeiten begangen, die die heutigen Anschuldigungen mitprovoziert haben. Wir hätten früher auf einen Dialog mit den Holocaust-Hinterbliebenen eintreten müssen.

Wie gehen die amerikanischen Kritiker mit dem Kriterium «Wahrheit» um?

Senator D'Amato und seine Mitarbeiter vertreten die Strategie, dass sie die Wahrheit entdecken, die wir Schweizer verstecken wollen. Beides ist falsch: Wir wollen die Wahrheit nicht verstecken, weil diese bereits bekannt ist.

Welche Auswirkungen haben D'Amatos Aktionen auf das Image der Schweiz in den USA?

Unser Land genoss in den USA bislang ein hohes Ansehen. Dieses Bild könnte in Zukunft leiden, je mehr Fragen uns gestellt werden und je länger die interessierten Kreise auf Antworten warten müssen.

Welche Reaktionen registrieren Sie auf offizieller Regierungsebene?

Mit unseren Gesprächspartnern im State Department haben wir einen permanenten Gedankenaustausch vereinbart. Als weiteren Schritt planen wir, die amerikanischen und schweizerischen Fachleute zusammenzubringen und der Sache auf den Grund zu gehen. Wir haben ein eminentes Interesse, dass die volle Wahrheit auf den Tisch kommt.

Stehen Sie in persönlichem Kontakt mit Senator D'Amato?

Ich bin bisher einmal mit seinen Mitarbeitern zusammengetroffen, habe mich aber vergeblich um ein Treffen mit ihm bemüht. Leider hat er überhaupt nicht reagiert. Wenn Herr D'Amato das Gespräch auch weiterhin verweigert, ist dies für mich ein Zeichen dafür, dass kein echtes Interesse an einem Dialog besteht.

Wie antworten Sie Kritikern, die behaupten, die Schweizer Bemühungen um eine historische Aufarbeitung seien unehrlich und könnten nicht ernst genommen werden?

Senator D'Amato hält uns für unglaubwürdig. Dies ist ein Hauptproblem. Wir glauben, einen Anspruch darauf zu haben, fair behandelt zu werden: Wir haben unseren Willen bekundet, die Unklarheiten aufzuarbeiten. Jetzt soll man uns diese Chance auch geben.

Was kann die Schweizer Regierung tun, um publizistisch angemessen und aktuell auf die Anschuldigungen zu reagieren?

Wir müssen ein klares Konzept erarbeiten und lernen, endlich alle am gleichen Strick zu ziehen. Bei der Umsetzung der neuen Informationspolitik sollten die Auslandsvertretungen und insbesondere die Botschaften in London und Washington einbezogen werden.

Welche Auswirkungen könnten die Dauervorwürfe aus dem «Büro D'Amato» im Inland zur Folge haben?

Es besteht Anlass zur Sorge, dass die Stimmung in der Schweiz beeinträchtigt wird. Ich hoffe persönlich, dass die Sache von allen Seiten mit dem nötigen Mass an Objektivität diskutiert und nicht mit Gegen-Emotionen auf Emotionen reagiert wird. Dies wäre insbesondere für die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz höchst unerfreulich.

Welche Dimension hat die Affäre um die Suche nach jüdischem Vermögen und das Nazi-Raubgold angenommen?

Was als privatrechtliche Auseinandersetzung zwischen Holocaust-Überlebenden und Schweizer Geschäftsbanken begann, hat sich zu einer zwischenstaatlichen Angelegenheit entwickelt. Wir müssen damit rechnen, dass uns die amerikanische Administration in Zukunft vermehrt auf die Problematik ansprechen wird.

Interview Peter Schibli, Washington

«Wir haben ein eminentes Interesse, das die volle Wahrheit auf den Tisch kommt.» Dies meint Carlo Jagmetti, US-Botschafter in Washington, zurzeit für die amerikanischen Medien ein begehrter Interviewpartner für Fragen zum Schicksal von Vermögenswerten jüdischer Holocaust-Opfer und zum Raubgold.

Zur Person

Washington. ps. Botschafter Carlo Jagmetti vertritt die Schweiz seit Mai 1993 in den Vereinigten Staaten. Der 64jährige Zürcher Jurist war 1962 in den diplomatischen Dienst eingetreten. Nachdem er zunächst in den Hauptstädten Rom und London stationiert war, übernahm er später auch in Seoul, Brüssel und Paris Funktionen im diplomatischen Dienst.

In den siebziger Jahren amtierte der Zürcher Carlo Jagmetti als Chef der Delegationen bei den Efta-, Gatt- und Unctad-Verhandlungen. Von 1982 bis 1987 war er Schweizer Missionschef bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel, anschliessend wechselte er als Botschafter in die französische Hauptstadt Paris.

Botschafter Jagmetti fürchtet um das Ansehen der Schweiz


1996 standen Sie im «Zentrum des Sturms»: Carlo Jagmetti, Schweizer Botschafter in Washington, und sein Pressesprecher, David Vogelsanger, wurden mit Fragen und Interview-Wünschen amerikanischer Medien zum Thema der jüdischen Vermögen geradezu überrollt. Wie ist die Stimmung in den USA? Die BaZ sprach mit Botschafter Jagmetti.


BaZ: Im Zusammenhang mit der Suche nach jüdischen Vermögen und dem Raubgold wirft der amerikanische Senator Alfonse D'Amato der Schweiz «Unehrlichkeit», «Täuschung» sowie «Widerspenstigkeit» vor. Welche Motive verfolgt der Politiker?

Carlo Jagmetti: Der Senator aus New York und sein Mitarbeiterstab sind seit Monaten ausgesprochen aktiv. Weil wir mitten in einem Wahljahr stecken, ist ein generelles politisches Interesse festzustellen. Senator D'Amato steht in zwei Jahren zur Wiederwahl an. Seine Popularität im Bundesstaat New York befindet sich gemäss Umfragen auf einem Tiefststand. Um wiedergewählt zu werden, muss er möglichst früh mit seiner Kampagne beginnen - vorausgesetzt, er kandidiert erneut. Da jüdische Wählerinnen und Wähler - traditionell eher Demokraten - in New York ein bedeutender politischer und wirtschaftlicher Faktor sind, ist das Thema der jüdischen Gelder wichtig.
Und sein Mitarbeiterstab?

Senator D'Amatos Mitarbeiter haben ein persönliches Interesse, sich durch einen aggressiven Arbeitsstil zu profilieren: Im amerikanischen System kommt und geht man mit dem Chef, der das tägliche Brot garantiert. Ausserdem kann ein Mitarbeiter seine Karrierechancen durch einen spektakulären Einsatz möglicherweise verbessern.

Wird auch aus anderen Kreisen Kritik an der Schweiz erhoben?

Grosses Interesse an dem Thema bekunden seit längerem der Jüdische Weltkongress sowie jüdische Organisationen. Aus dem US-Repräsentantenhaus haben sich fünf Abgeordnete gemeldet und im Rahmen einer normalen Erkundungstätigkeit ihr Interesse bekundet. Inzwischen ist auch die Regierung aktiv geworden: Das State Department hat einen Sonderbeauftragten für herrenlose Vermögen in Osteuropa eingesetzt und beim Historikerbüro eine Studie zu der Problematik in Auftrag gegeben.

Wie erklären Sie die Tatsache, dass die Vorwürfe in den amerikanischen Medien auf grosse Aufmerksamkeit stossen?
Ein wichtiger Grund ist zweifellos, dass mit der Vermögenssuche tiefe menschliche Emotionen verbunden sind: Holocaust-Überlebende, mehrheitlich Senioren, beklagen, von den Banken um ihr Familienvermögen geprellt worden zu sein.

Ein zweiter Faktor ist unser aller Kurzzeitgedächtnis: Nur die wenigsten können sich daran erinnern, dass bereits vor Jahrzehnten über die gesamte Materie verhandelt wurde. Die medienwirksame Überraschung, die jetzt täglich gespielt wird, wenn wieder ein «Archivfund» an die Öffentlichkeit kommt, ist - rein menschlich gesehen - verständlich. Institutionell ist sie jedoch nicht gerechtfertig.

Die Schweizer Archive sind offen. Viele der von Senator D'Amato präsentierten Dokumente werden in der historischen Literatur zum «Washingtoner Abkommen» ausführlich behandelt und waren der damaligen amerikanischen Verhandlungsdelegation bekannt. Von der Öffentlichkeit wurden sie nur nicht zur Kenntnis genommen.

Besitzt die Schweiz ein Nachholbedürfnis bezüglich Vergangenheitsbewältigung?

Bundesrat Villiger hat sich im Mai 1995 als Bundespräsident in seiner Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes bemüht, einen ehrlichen Schritt in diese Richtung zu tun. Diese wichtige Ansprache sowie die Öffnung der amerikanischen Archive mögen beide dazu beigetragen haben, dass auch im Ausland ein grosses Interesse an einer Aufarbeitung dieser Periode unserer Geschichte entstanden ist.

Erfolgt die Fortsetzung der Aufarbeitung freiwillig, oder wurde sie durch Druck aus dem Ausland erzwungen?

Schweizer Historiker haben von sich aus wesentliche Beiträge geleistet. Was die jüdischen Gelder betrifft, wurde die Einsetzung der Volcker-Kommission sowie der Bundesbeschluss über eine nationale Historikerkommission zweifellos durch Druck von aussen beschleunigt. Inwiefern die Bankiervereinigung durch ihre erste Untersuchung zu diesem Druck beigetragen hat, bleibt abzuklären. Gewiss wurden psychologische Ungeschicklichkeiten begangen, die die heutigen Anschuldigungen mitprovoziert haben. Wir hätten früher auf einen Dialog mit den Holocaust-Hinterbliebenen eintreten müssen.

Wie gehen die amerikanischen Kritiker mit dem Kriterium «Wahrheit» um?

Senator D'Amato und seine Mitarbeiter vertreten die Strategie, dass sie die Wahrheit entdecken, die wir Schweizer verstecken wollen. Beides ist falsch: Wir wollen die Wahrheit nicht verstecken, weil diese bereits bekannt ist.

Welche Auswirkungen haben D'Amatos Aktionen auf das Image der Schweiz in den USA?

Unser Land genoss in den USA bislang ein hohes Ansehen. Dieses Bild könnte in Zukunft leiden, je mehr Fragen uns gestellt werden und je länger die interessierten Kreise auf Antworten warten müssen.

Welche Reaktionen registrieren Sie auf offizieller Regierungsebene?

Mit unseren Gesprächspartnern im State Department haben wir einen permanenten Gedankenaustausch vereinbart. Als weiteren Schritt planen wir, die amerikanischen und schweizerischen Fachleute zusammenzubringen und der Sache auf den Grund zu gehen. Wir haben ein eminentes Interesse, dass die volle Wahrheit auf den Tisch kommt.

Stehen Sie in persönlichem Kontakt mit Senator D'Amato?

Ich bin bisher einmal mit seinen Mitarbeitern zusammengetroffen, habe mich aber vergeblich um ein Treffen mit ihm bemüht. Leider hat er überhaupt nicht reagiert. Wenn Herr D'Amato das Gespräch auch weiterhin verweigert, ist dies für mich ein Zeichen dafür, dass kein echtes Interesse an einem Dialog besteht.

Wie antworten Sie Kritikern, die behaupten, die Schweizer Bemühungen um eine historische Aufarbeitung seien unehrlich und könnten nicht ernst genommen werden?

Senator D'Amato hält uns für unglaubwürdig. Dies ist ein Hauptproblem. Wir glauben, einen Anspruch darauf zu haben, fair behandelt zu werden: Wir haben unseren Willen bekundet, die Unklarheiten aufzuarbeiten. Jetzt soll man uns diese Chance auch geben.

Was kann die Schweizer Regierung tun, um publizistisch angemessen und aktuell auf die Anschuldigungen zu reagieren?

Wir müssen ein klares Konzept erarbeiten und lernen, endlich alle am gleichen Strick zu ziehen. Bei der Umsetzung der neuen Informationspolitik sollten die Auslandsvertretungen und insbesondere die Botschaften in London und Washington einbezogen werden.

Welche Auswirkungen könnten die Dauervorwürfe aus dem «Büro D'Amato» im Inland zur Folge haben?

Es besteht Anlass zur Sorge, dass die Stimmung in der Schweiz beeinträchtigt wird. Ich hoffe persönlich, dass die Sache von allen Seiten mit dem nötigen Mass an Objektivität diskutiert und nicht mit Gegen-Emotionen auf Emotionen reagiert wird. Dies wäre insbesondere für die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz höchst unerfreulich.

Welche Dimension hat die Affäre um die Suche nach jüdischem Vermögen und das Nazi-Raubgold angenommen?

Was als privatrechtliche Auseinandersetzung zwischen Holocaust-Überlebenden und Schweizer Geschäftsbanken begann, hat sich zu einer zwischenstaatlichen Angelegenheit entwickelt. Wir müssen damit rechnen, dass uns die amerikanische Administration in Zukunft vermehrt auf die Problematik ansprechen wird.

Interview Peter Schibli, Washington

«Wir haben ein eminentes Interesse, das die volle Wahrheit auf den Tisch kommt.» Dies meint Carlo Jagmetti, US-Botschafter in Washington, zurzeit für die amerikanischen Medien ein begehrter Interviewpartner für Fragen zum Schicksal von Vermögenswerten jüdischer Holocaust-Opfer und zum Raubgold.

Zur Person

Washington. ps. Botschafter Carlo Jagmetti vertritt die Schweiz seit Mai 1993 in den Vereinigten Staaten. Der 64jährige Zürcher Jurist war 1962 in den diplomatischen Dienst eingetreten. Nachdem er zunächst in den Hauptstädten Rom und London stationiert war, übernahm er später auch in Seoul, Brüssel und Paris Funktionen im diplomatischen Dienst.

In den siebziger Jahren amtierte der Zürcher Carlo Jagmetti als Chef der Delegationen bei den Efta-, Gatt- und Unctad-Verhandlungen. Von 1982 bis 1987 war er Schweizer Missionschef bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel, anschliessend wechselte er als Botschafter in die französische Hauptstadt Paris.