Freitag, Dezember 08, 2006

Zwischen Berne und Geneva ist die Welt noch in Ordnung


Im Herzen Amerikas, in Adams County (Indiana), beschäftigen weder Präsident Clintons Sex-Affäre noch die Nazi-Gold-Geschichte die Menschen. Hier sind wirtschaftliche Sicherheit, Bodenständigkeit und Tradition Trumpf. Die BaZ nahm einen Augenschein in einer Gegend, in der 75 Prozent der Einwohner aus der Schweiz abstammen.

Saftige Weiden, fruchtbares Ackerland, breite Wege: Die Landschaft erinnert an das Schweizer Mittelland. Stolze Bauernhöfe, herausgeputzte Chalets, Blumenschmuck auf den Fensterbänken, im Wind flatternde Fahnen: Die Ortschaften könnten irgendwo im Schweizer Voralpengebiet stehen.

Von Peter Schibli, Berne (Indiana)

Doch der optische Eindruck täuscht. Wir sind nicht auf einer Schweizer Reise, sondern im Herzland Amerikas - auf der Fahrt quer durch Adams County, eine Gemeinde dreissig Kilometer südlich von Fort Wayne. Eine Mehrheit der Familien hier ist Schweizer Abstammung. Namen wie Lehman, Graber, Sprunger, Liechti, Neuenschwander oder Zürcher belegen das helvetische Erbe.

In und um Berne, eine Ortschaft mit 3700 Einwohnern, leben Mennoniten, orthodox gekleidete Amische und Amerikaner anderer Konfessionen neben- und miteinander. Die Wiedertäufer, die im 18. und 19. Jahrhundert vor der Verfolgung aus der Schweiz, Deutschland und dem Elsass in die USA geflohen waren, hatten sich vor den Einwanderern aus England und Irland in dem ehemaligen Wald- und Sumpfgebiet niedergelassen.

Lebenswichtiger Zug

Als erste waren Christian und Peter Baumgartner gekommen. Sie kauften Land für drei Dollar die Hektare, bauten 1839 zusammen mit ihrem Vater David, einem Pfarrer, Blockhütten und begannen, das Land zu bebauen. Zahlreiche amische Familien, unter anderem aus dem Jura, folgten ihnen und gründeten 1852 die Siedlung Berne. Doch die Möglichkeiten, die angepflanzten Produkte abzusetzen, waren wegen der schlechten Verkehrsverbindungen beschränkt.

Als die «Grand Rapids and Indiana Railroad» eine Bahnlinie quer durch Adams County plante, sahen die Siedler ihre Chance gekommen. Sie offerierten der Eisenbahngesellschaft Land für den Bau eines Depots und eines Bahnhofs. Das Unternehmen nahm das Angebot an, und am Weihnachtstag des Jahres 1871 hielt in Berne der erste Zug. Das Ereignis brachte in den folgenden Jahren neue Einwanderer aus der Schweiz und Deutschland.

Im «Heritage Village», dem grössten Freiluftmuseum Ost-Indianas, können die Zeugnisse aus der Gründerzeit bestaunt werden. Auf dem Gelände sind 13 Gebäude sowie zahlreiche Maschinen und Geräte ausgestellt. Die 1860 von den Gebrüdern Baumgartner errichtete Kirche ist ebenso zu sehen wie ein 100jähriges Wohnhaus mit Inventar («Luginbill-House»), eine Scheune («Neuenschwander-Barn») sowie eine funktionierende Alpkäserei («Cheese House»).

«Willkommen in der Vergangenheit», begrüsst uns Paul Liechty, ein pensionierter Lehrer, beim Betreten des historischen Luginbill-Hauses. Seine Schwester Anna spielt im Nebenraum auf einem Harmonium. Vor dem Kachelofen schwärmt der 80jährige von damals. «Früher war vieles einfacher und besser.» Heute wohnt er zusammen mit seiner Schwester in einem Altersheim. Stolz auf ihr «Berner Chalet» ist das aus der Schweiz stammende Ehepaar Amstutz-Habegger (Bild).

Holzmonster

Im «Swiss Heritage Village» ist man stolz auf die Schule und auf die Apfelpresse. Das alte Schulgebäude mit Glocke könnte einem Ankerbild entnommen sein: Hölzerne Pültchen für die Schüler, ein Stehpult für den Lehrer, ein gusseiserner Ofen in der Mitte des Raumes, in der Ecke ein Modell-Chalet, gebaut von einem Chris Zürcher. Amos B. Schwartz, ein Antik-Schreiner und Restaurateur, demonstriert die Apfelpresse. William Hauenstein, ein Schweizer Einwanderer, hatte das «Holzmonster» 1864 gebaut. Der Legende nach soll ihm die Projektausführung im Traum eingefallen sein. Wahrscheinlicher ist, dass Hauenstein vor seiner Überfahrt in die «Neue Welt» in Europa Weinpressen sah, die er in Berne nachbaute. Selbst 134 Jahre nach ihrer Entstehung wird die in einem Schopf untergebrachte «Cider Press» noch benutzt.

Von Riehen nach Geneva

Das Leben in Berne verläuft in geordneten Bahnen, bedächtig und ohne weltbewegende Skandale. Die Hauptstadt Washington ist weit weg. Ob Präsident Clinton mit Monica Lewinsky ein sexuelles Verhältnis hatte oder nicht, ist hier kein Thema. Der Getreidepreis oder das Wetter von morgen interessieren mehr.

Auf seinem «Mega-Hof» in der Nähe der Ortschaft Geneva treffen wir Martin Rediger. Der Landwirt ist 1980 aus Riehen in die USA übersiedelt, hat in Adams County eine Familie gegründet und sich eine neue Existenz aufgebaut. Ehefrau Anita ist Amerikanerin mit sehr guten Deutschkenntnissen; mit den Söhnen Ben (15), Erich (13) und Alex (9) sprechen die Redigers deshalb auch Baseldeutsch. Doch das Englische dominiert, insbesondere beim Jüngsten.

Gut akzeptiert

Martin Rediger bewirtschaftet die Riesenfläche von 320 Hektaren. Zurzeit baut er die Futterpflanze Luzerne, Mais und Soja-Bohnen an. Einige Felder werden als Weide genutzt. In den Ställen stehen Mastrinder. Der Bauer macht einen zufriedenen Eindruck. Der Kontakt zu den Amisch-Familien in der Umgebung sei gut, sagt er und klopft seinem Nachbarn Menno Hilty freundschaftlich auf die Schultern.

Von einer «vorbildlichen Akzeptanz» berichtet auch Bernes Bürgermeister Blair Fulton. Er sei von den «Schweizern» vor dreissig Jahren herzlich aufgenommen worden, berichtet der frühere Geschäftsmann schottischer Abstammung. Die Tatsache, dass er vor sieben Jahren als erster Nicht-Schweizer ins Bürgermeisteramt gewählt wurde, spreche für die Offenheit und Toleranz der «Indiana-Berner», meint Fulton.

Möbel und Käse

Wirtschaftlich hat die Gemeinde derzeit keine grösseren Sorgen. Die Konjunktur floriert, die Arbeitslosigkeit ist gering (3,3 Prozent), die lokalen Unternehmen machen Überstunden. Berne wurde bekannt für seine beiden Polstermöbelfabriken. Die drei örtlichen Möbelgeschäfte («Clauser Furniture», «Habegger Furniture» und «Yager Furniture») können sich denn auch nicht über fehlende Kundschaft beklagen. Ausser Möbeln werden in der «United Tech-Factory» elektronische Bestandteile und in der «Cheese-Factory» Käse hergestellt. «Schweiz» und «Käse» gehören in Amerika einfach zusammen.
Swiss-Day-Festival: Ausdruck von Heimatverbundenheit

Berne. ps. Das kulturelle Erbe ist im Adams County unübersehbar, und es wird auch kommerziell ausgewertet. «A bit of Old Switzerland - Continuing a Swiss Heritage» steht in grossen Buchstaben auf der Berne-Broschüre der Handelskammer. Am jährlichen Festival am letzten Juli-Wochenende werden tatsächlich Schweizer Fahnen geschwungen, Alphörner geblasen und Sonntagstrachten getragen. Vor der idyllischen Dorfkulisse, zwischen dem Blumengeschäft «Edelweiss» und der «First Bank of Berne», kann man eine Armbrust kaufen, Sauerkraut und «Hamme» essen oder einen der vielen «Swiss-Pins» erstehen.

Hühnerbaron und Prediger

Die Festival-«Königin» Susi Huser und ihre Freundinnen tragen von der Handelskammer geborgte Trachten. Das Ehepaar Amstutz-Habegger und Ex-Bürgermeister Gaylord Stucky stolzieren im «Chüier-Mutz» durch die Hauptstrasse. Phil Neuenschwander wird zum Marschall der Parade ernannt, und Hiram Kohli, ein aus Greensville (Ohio) angereister «Hühnerbaron» und Prediger, betet zur Eröffnung der «Swiss Days» in Walliserdialekt. «Liebe Gott, Du bisch grad wie ne Latärne. Bitte, sägna dä Tag hie in Schwyz, sägne üsi Fründe und dy Frömde. Hilf mir Gott, das Wasser chunnt mir bis a Hals. I tiefe Schlamm bini igsunke. I cha nimme stah. I by todmüed vom Brüele, chyschterig isch my Hals…», rezitiert Kohli und übersetzt für Nicht-Dialekt-Kenner: «Chyschterig means ¬sored­ (wund).»

Auf dem Parkplatz der nahen High-School geht ein «Horse-Pulling»-Wettbewerb über die Bühne. Die stärksten Pferde und deren Besitzer wetteifern miteinander, wer die schwersten Lasten ziehen kann. Vor der öffentlichen Bibliothek spielt eine Polka-Band zum Tanz auf, bevor ein Jugendlicher das Lied «Edelweiss» singt, allerdings in Englisch. Politisch korrekt ertönt auch die amerikanische Nationalhymne.

Schweizer Identität sucht in Berne vorwiegend die ältere Generation, und zwar eher an der Oberfläche. «Kühe, Käse, Schokolade» - die üblichen Klischees werden kultiviert. Die Schweiz gilt als das «Land, in dem Milch und Honig fliessen». Fragen über die heutige Schweiz und deren Probleme stossen schnell an Grenzen.

Allenfalls verunsichert

Von einer Schweizer Identitätskrise, den schwierigen Verhandlungen mit der Europäischen Union oder der Diskussion um die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg hat man in Indiana (noch) nichts gehört. Die Problematik der nachrichtenlosen Vermögen und des Nazi-Goldes ist weitgehend unbekannt, oder man hält nichts von der entsprechenden Debatte. «Alles dummes Gestürm», meint eine Rentnerin und ergänzt: «Mein Vater wäre nie auf die Idee gekommen, seine Heimat zu verklagen, weil er aus der Schweiz vertrieben wurde.»

Mennoniten-Prediger Hiram Kohli zeigt sich verunsichert: Er wisse nicht, was wahr sei an den Vorwürfen. Aber wenn die Schweizer Banken noch Geld oder Gold horteten, das nicht ihnen gehöre, dann müssten sie es zurückgeben, fordert er und ergänzt: «Was Unrecht war, bleibt auch nach fünfzig Jahren Unrecht.»

Im Gemeindehaus war die Holocaust-Hypothek der Schweiz bislang kein Thema. Einen einzigen anonymen Brief habe er erhalten, erzählt Bürgermeister Fulton. Der Schreiber habe gefragt, ob es nicht an der Zeit wäre, die Annahme von Nazi-Raubgold durch die Schweizerische Nationalbank ins «Berne-Jahrbuch» aufzunehmen. Fulton sah dafür keinen Anlass.

Der Dialekt verschwindet

Merle Inniger, dessen Grossvater 1887 aus Adelboden einwanderte, sorgt sich weniger um das Nazigold als um den Erhalt des Schweizer Dialekts in Adams County. Immer weniger «Berner» redeten und verstünden Schweizerdeutsch. Die Jungen zeigten kein Interesse mehr; mit der älteren Generation sterbe auch die Sprache der Vorfahren aus, befürchtet Inniger.

Mit Kontakten und Partnerschaften zu Schweizer Städten oder Vereinen hapert es. Bis vor einigen Jahren hatten Sherm und Becky Stucky, ein aktives Rentner-Ehepaar, in Berne Dialektkurse organisiert und Schweizer Reisen veranstaltet. Gaylord Stucky, der von 1975 bis 1982 Bürgermeister war, erinnert sich an eine Austauschvisite mit dem legendären Berner Stadtpräsidenten Tschäppät. Seit Sherm Stucky gestorben ist und Becky Stucky im Altersheim lebt, sind die offiziellen Kontakte eingeschlafen.

Eine Überraschung erleben wir beim Besuch einer Amisch-Familie: An den Swiss Days haben wir Elisabeth Hilty, eine junge Frau aus Geneva, kennengelernt. Sie lädt uns auf den Hof ihrer Eltern ein. Fünf Kilometer südlich von Berne leben Menno und Rosa Hilty mit ihren elf Kindern. Elisabeths Geschwister heissen Mary, Joseph, Martha, Menno Jr., Ruth, Emma, William, Catherine, Barbara und Rosa.

Leben ohne Strom

Vater Menno spricht fast akzentfrei Berndeutsch. Sein Grossvater war Ende des letzten Jahrhunderts aus der Bundesstadt nach Missouri ausgewandert. «Balle», «Chare», «Grännihaar», «gueti Nachtrueh» - im Gespräch benutzt der Amisch-Bauer zahlreiche Schweizer Ausdrücke. Einige Begriffe haben sich verändert: Aus «gumpe» wurde «tschumpe». Weil es Ende des letzten Jahrhunderts noch keine Flugzeuge gab, integrierte die Hilty-Familie den englischen Begriff «airplane» in die Umgangssprache.

Bei Kaffee und Kuchen erfahren wir, dass die Hiltys ohne Elektrizität leben. Auf andere Errungenschaften der modernen Zeit mochten sie jedoch nicht länger verzichten: Ein Telefon besitzen sie, und im Gegensatz zu den meisten seiner Glaubensbrüder fährt Vater Menno ein Auto, wenn er Amos Schwartz, den Antik-Restaurateur, auf dessen Reisen begleitet. Doch wie ihre Vorfahren tragen die Hiltys einfarbige Amisch-Kleider: die Männer schwere Arbeitshosen, blaue Hemden, schwarze Hosenträger und einen Hut; die Frauen Strümpfe, selbstgenähte Röcke sowie auf dem Kopf schwarze oder weisse Häubchen.

Mit der Kutsche zu McDonald's

Wert auf Tradition legen auch die Troyers. Randy und Kathy Troyer, beide deutlich unter dreissig, leben mit ihren drei Kindern Benjamin, Susan und Joshua südlich von Berne auf einem kleinen Hof. Alle zwei Wochen treffen sie sich mit 28 anderen Amisch-Familien zu einem dreistündigen Gottesdienst. Dabei wird aus einem deutschen Gebetbuch gebetet.

Auto besitzen die Troyers keins. Zum Einkaufen oder für Ausflüge benutzen sie die Pferdekutsche, den «Buggy». Randy arbeitet als Schreiner in einer Möbelfabrik. Rund zehn Prozent der Belegschaft ist amisch. Kathy führt derweil den Haushalt und ist für den Gemüsegarten verantwortlich. Mit den Kindern spricht sie Plattdeutsch. Randy und Kathy wirken traditionsbewusst und anpassungsfähig zugleich. Die Kinder hopsen im Hof auf einem Trampolin herum, und gemeinsam fährt man ab und zu nach Berne zu McDonald's.

In der Tat gehören die Amischen mit zur Stammkundschaft der Fast-Food-Kette in Adams County. Inhaber Karl Schmitz hat hinter seinem Restaurant einen «Buggy»-Parkplatz für zehn Kutschen eingerichtet. Und über dem Eingang steht, umrahmt von den Wappen der 26 Schweizer Kantone: «Welcome: Kommen Sie herein.»

(Basler Zeitung, Juli 1998)

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