Donnerstag, Dezember 21, 2006

Amerika steht für Pioniergeist, Vielfalt und Pragmatismus


Die USA werden zuweilen abschätzig identifiziert mit McDonald's, Puritanismus und Oberflächlichkeit. In einer Schlussbilanz beschreibt unser Washingtoner Korrespondent, warum die Nation nach seiner Ansicht auf Pioniergeist, Vielfalt, Lebenslust und Pragmatismus gebaut ist. «Auf der Suche nach Amerika»: Ein Streifzug durch Neu-England.

Microsoft, Netscape, Yahoo und Amazon.com, die Mega-Unternehmen der amerikanischen New Economy, sind erst wenige Jahre alt. Aber im Grunde genommen hat die Erfolgsgeschichte der Internet-Industrie 1620 in Plymouth (Bundesstaat Massachusetts) begonnen. Nirgendwo wird die offene Unternehmenskultur, die Risikobereitschaft, der Pioniergeist deutlicher als auf der Plymouth-Plantation: In der zwischen Boston und Cape Code gelegenen Einwanderersiedlung begannen die auf der «Mayflower» übers Meer gekommenen Pilgerväter vor 380 Jahren ein neues Leben. In historischen Kostümen zeigen deren Nachfahren, wie die Pioniere Hütten bauten, Essbares pflanzten und Grütze kochten. «Damit mein Mais besser gedeiht, lege ich einen Hering in die Erde», erläutert Bauer Cookes in Alt-Schottisch.

Von Peter Schibli, Washington

Armut, hohe Steuern, Diskriminierung und religiöse Verfolgung hatten die Siedler über den Atlantik getrieben. Unzureichend ausgerüstet und von brutalen Naturgewalten, feindlichen Indianerstämmen und einem harten Alltag herausgefordert, kämpften sie um das Überleben. Innovativ gründeten die Abenteurer neue Betriebsformen, schlossen sich zu Bürgerräten zusammen und verteidigten das Erarbeitete verbissen gegen die britische Krone. Genau diese Härte, die unstillbare Sehnsucht nach Unabhängigkeit, der unzerstörbare Optimismus und die beachtliche Risikobereitschaft sind Teil des «American Spirit». Ohne die Kraft und die Erfolgsgeschichte der Pilgerväter wäre Amerika nie das geworden, was es heute ist: eine Weltmacht und Wirtschaftslokomotive.

Selbstverständlich gilt dieser Anspruch nicht absolut. Auf der Plymouth-Plantation wird klar, wie rücksichtslos die weissen Einwanderer mit der Urbevölkerung, den Indianern, umgingen. Am Eel-River duldete man die «Rothäute» nur im Wampanoag-Dorf. In der Schwestersiedlung Jamestown (Virginia) und im Westen des Landes wurden die Indianer gnadenlos vertrieben, bekämpft oder ermordet. Eine faire Kompensation für das erlittene Unrecht bleibt den Ureinwohnern bis heute vorenthalten. Diese Hypothek lastet schwer auf Amerikas «heldenhafter Geschichte», obwohl die meisten US-Bürger dies nicht wahrhaben wollen.

Einwanderungswellen

Ebenso fundamental wie der Pioniergeist war die Einwanderung von 50 Millionen Menschen zwischen 1820 und 1985. 38 Millionen kamen allein aus Europa. Das 12 000-Seelen-Dorf Manville im nördlichen New Jersey steht stellvertretend für diese Entwicklung: An der Stadtgrenze zu New York haben sich Russen, Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Polen und Balten niedergelassen. Die Hälfte der Bevölkerung stammt aus Osteuropa.

Die meisten «Manviller» sind bei einem örtlichen Industriebetrieb beschäftigt. Der Multi Johnson&Johnson gibt dem gebürtigen Polen Anthony Dmochowski Arbeit. Der Handwerker lebt ein Leben, das in seiner Heimat so nicht möglich wäre. Dank Zusatzeinkommen der Ehefrau und zahllosen Überstunden kann die Familie Dmochowski im eigenen Haus wohnen und der Tochter ein Wirtschaftsstudium an einer bekannten Universität bezahlen. Mit dem Rest hat sich Anthony in Pennsylvania ein Ferienhäuschen mit Seeanstoss gekauft. Der «American Dream» ging für ihn in Erfüllung. Sohn Robert, jugendliches Beispiel des «Melting Pot», hat mit dem Heimatland seines Vaters nicht mehr viel gemeinsam. Mit Leib und Seele ist der 17-Jährige patriotischer Amerikaner. In wenigen Wochen beginnt er die Rekrutenschule als Marine-Soldat. Im Anschluss an die vierjährige Ausbildung will er auf Staatskosten studieren und «seinem Land treu dienen».

Weisse bald als Minderheit

Manville gleicht einem slawisch-amerikanischen Klon: Polnische und russische Restaurants stehen neben WalMart, Kentucky-Fried-Chicken und Home Depot. Am Sonntagmorgen gehen die Dmochowskis in die Kirche, wo ein polnischer Priester eine Messe zelebriert. Selbstverständlich sprechen alle Polnisch. «Hier lässt sichs leben. Hier gibt es immer genug zu essen. Das Fernsehprogramm ist abwechslungsreich, und mein Dach über dem Kopf hält dem Regen stand», freut sich Schwiegervater Boleslaw Skwira. Der 82-Jährige war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostpolen, wo seine Familie zuerst von den Russen und dann von den Deutschen vertrieben wurde, in die USA geflohen. Freiheit ist für ihn keine Worthülse: In Manville hat er Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gefunden.

Indes: In vielen Städten und Regionen verändert sich der Mix der ethnischen Vielfalt. Seit Beginn der achtziger Jahre wandern hauptsächlich Latinos und Asiaten ein. Die Weissen werden langsam, aber sicher zu einer eigenen Minderheit. Vorausgesetzt, die Zuwanderung hält an, dürften die USA ab der Mitte des Jahrhunderts eine Nation von Minderheiten sein, prognostizieren die Demoskopen. Damit verbunden ist die Verschiebung vom «Melting Pot», in dem sich die Einwanderer bisher an die amerikanischen Gepflogenheiten anpassten, zur «Salad Bowl», zur Salatschüssel. Die neu immigrierenden Latinos und Asiaten drängen darauf, ihre individuellen Bräuche zu pflegen. Den «American Way of Life» lehnen sie ab. Diese Entwicklung könnte in den kommenden Jahrzehnten zu erheblichen sozialen und politischen Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen führen.

Polizeigewalt am Broadway

Spürbar ist die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas bereits heute in New York City, wo Vertreter der unterschiedlichen Klassen um Macht und Einfluss ringen. Unüberhörbar sind derzeit die Schwarzen, die unter Führung des Bürgerrechtlers Al Sharpton regelmässig gegen Polizeibrutalität, Diskriminierung und Verarmung demonstrieren. Während wir über den Broadway schlendern, zeigt die Staatsmacht ihre Muskeln: Mehrere hundert Polizisten nehmen 27 Farbige fest, welche den Times Square besetzt halten. Das «Vergnügungsviertel» Manhattans repräsentiert die amerikanische Verschwendungs- und Konsumgesellschaft. Wer über genügend Geld verfügt, kann in einem der schillernden Theater eine Revue sehen oder an der 47. Strasse Juwelen kaufen. «Having fun durch Konsum» gilt hier rund um die Uhr.

Obdachlose, Bettler und Geisteskranke dagegen werden systematisch aus Manhattan vertrieben, damit die Luxusgesellschaft an dem Elend nicht Anstoss nehmen muss. Doch die Vorzeigepolitik von Bürgermeister Rudy Giuliani ist verlogen und verdrängt die bestehenden Probleme nur. Wenige Stunden nach ihrer «Deportation» tauchen die Obdachlosen und Bettler nämlich wieder in Manhattan auf. Andere ziehen in die Aussenquartiere und werden dort zum «Stein des Anstosses». Die von «Saubermann» Giuliani bekämpften Sex-Shops ändern ihre Logos und Lokalitäten, um kurz darauf in einer anderen Avenue wieder Geschäfte zu machen.

Entwicklung in Harlem

Viel versprechend ist die Entwicklung im Stadtteil Harlem: In den vergangenen drei Jahren wurden zahlreiche der heruntergekommenen Brownstone-Häuser renoviert und verkauft. Geschäftsleute und Familien mit Kindern sind eingezogen. Dadurch haben die Strassen an Lebensqualität gewonnen. Die Kriminalität konnte zurückgedrängt werden. Gunilla Perez-Faringer, eine schwedische Journalistin, erstand 1992 in Hamilton Heights ein Mehrfamilienhaus, baute dieses um und vermietet heute vier der fünf Wohnungen an Touristen. «Harlem hat mich immer fasziniert. Der Stadtteil ist untrennbar mit Jazz, Kunst und Kultur verbunden», schwärmt sie.

Zufrieden mit seinem Leben ist auch Michael Wainwright: «Wer seine Fantasie und die vor ihm liegenden Gelegenheiten nutzt, kann es weit bringen», philosophiert der junge Töpfer. Im Stadtteil Brooklyn betreibt er in einer alten Fabrik ein eigenes Studio. Der 35-Jährige hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Tag für Tag produziert er exklusive Teller, Tassen, Untersätze und Schüsseln. Seine Markenzeichen sind der Gold-, Silber- und Platin-Rand. Auch Michael träumt den amerikanischen Traum: Wenn sein Geschäft in den kommenden Jahren weiter so gut läuft, möchte er junge Töpfer anstellen und sich auf das Design und Marketing seiner Produkte konzentrieren. «Ich bin nicht nur Künstler, sondern auch Unternehmer. Meine Firma soll wachsen», meint er optimistisch.

Glace aus Vermont

Dass sich Unternehmergeist auszahlt, erleben wir in Vermont: Auf einer Führung durch die Glace-Fabrik Ben&Jerry's in Waterbury lernen wir die Firmengeschichte kennen: Ben Cohen und Jerry Greenfield, die beiden Gründer, lernten sich zu Beginn der siebziger Jahre als Schüler kennen. 1977 zogen sie nach Vermont und eröffneten nach erfolgreicher Absolvierung eines Fernlehrganges einen Glace-Laden. In einer alten Tankstelle in Burlington testeten sie neue Geschmacksstoffe. Dabei entstand ein Qualitätseis, das heute auch in Europa Anklang findet. 1985 stieg der Geschäftsumsatz auf 20 Millionen Dollar. Der Bau einer neuen Fabrik wurde notwendig. Der Bau in Waterbury legte den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg. 1992 wuchs der Umsatz auf 131 Millionen, 1997 auf 197 Millionen und 700 Mitarbeiter. Im letzten Winter wurde Ben&Jerry's für 326 Millionen Dollar an den holländischen Unilever-Konzern verkauft. Ist die Belegschaft schockiert? «Solange wir Arbeit haben und Qualitätseis herstellen, ist es uns egal, wo unser Boss sitzt», erklärt eine Angestellte.

Immerhin: Ben Cohen und Jerry Greenfield sind ihrem Versprechen treu geblieben. Die beiden Jungunternehmer, die es dank Innovation und harter Arbeit zu Millionären gebracht haben, finanzieren eine «Stiftung zum Schutz der Kinder». 7,5 Prozent des Jahresgewinns fliessen in die Stiftungskasse. Damit eifern sie namhaften Philantropen nach, die Millionenbeträge für wohltätige Zwecke lockermachen.

In Burlington treffen wir Gene Pawlikowski, der vor einigen Monaten von Washington D.C. in den hohen Norden gezogen ist. «In Vermont regieren Vernunft und Pragmatismus. Hier gibt es keine politischen Grabenkämpfe», bilanziert der Ziegelsteinverkäufer seine ersten Eindrücke und ergänzt: «In Vermont lehnt man ein Wachstum um jeden Preis ab.» In der Tat: Grossverteiler wie Target oder WalMart haben hier einen schweren Stand. Das lokale Gewerbe wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die Mega-Ketten und wird vom Gesetzgeber darin unterstützt. Auch bezüglich Umweltschutz ist Vermont fortschrittlicher als andere Bundesstaaten: Recycling ist hier kein Fremdwort. Wer den Lake Champlain verschmutzt, wird bestraft. Der Bau neuer Skigebiete ist mit strengen Auflagen verbunden.

Das beste Beispiel für «politischen Pragmatismus» lieferte vor drei Monaten das Vermont-Parlament: Während in anderen Bundesstaaten hitzig über eine Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gestritten wird, hat der Gesetzgeber im April ein Dekret verabschiedet, das die «Civil Union» für rechtens erklärt. Der Begriff Schwulen-Ehe wurde bewusst vermieden. «Hier handelt man mit kühlem Kopf und legalisiert, was ohnehin schon Realität ist», kommentiert Pawlikowski.

Sport als Religion

Was wäre ein Streifzug durch Amerika ohne einen Zwischenhalt beim Thema Baseball? Dass neben der römischen Maxime «Brot und Spiele» Sport in den USA Religionscharakter hat, wird uns in der «Baseball Hall of Fame» bewusst. Das «Heiligtum» aller Baseballspieler befindet sich in Cooperstown (Bundesstaat New York). In dem Museum, das einer Kathedrale gleicht, sind die Baseball-Legenden aller Zeiten verewigt. Kupferne Abbilder der Helden prangen mit Text und Lebensdaten im «Seitenschiff». Im «Altarbereich» wird das Home-Run-Derby zwischen Mark McGuire und Samy Sosa gefeiert. Andächtig-religiös ist die Stimmung in der «Ruhmeshalle»: Tief ergriffen bestaunen die Fans die Reliquien ihrer Idole. Historische Bats, Bälle und Schuhe erinnern an gewonnene Spiele.

Kontrovers, aber innovativ

Die Sportart hat - neben dem Leistungselement - viel Patriotisches an sich: Amerikanische Väter pflegen mit ihren Söhnen sonntags im «Backyard» zu spielen oder gemeinsam mit der Familie das Derby des Lokalfavoriten zu besuchen. Die amerikanische Nationalflagge wird dabei ebenso geachtet wie die Werte Respekt, Fairness und Disziplin. Wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball nie persönlich in einem «Ballpark» erlebt hat, kann wohl Amerika nicht vollständig verstehen.

Die USA sind ein widersprüchliches Land: In Europa gängige Clichés wie McDonald's, Puritanismus oder Oberflächlichkeit werden der Realität nicht gerecht. Amerika ist mehr als Fast Food, unverzichtbare Weltmacht oder gelbe Schulbusse. Amerika ist vielfältig, innovativ, kontrovers und voller innerer Gegensätze. Amerika ist nicht besser oder schlechter als Europa. Amerika ist anders.

Die USA ohne Baseball - unvorstellbar. Baseball ist Leistung, Baseball ist Patriotismus. Der Sport hat schon beinahe Religionscharakter.Vollständig verstehen, so die Meinung unseres langjährigen USA-Korrespondenten, kann das Land wohl nur, wer die amerikanische Leidenschaft für Baseball persönlich miterlebt hat.

Wechsel in Washington

BaZ. Mit diesem Text verabschiedet sich Peter Schibli vom Washingtoner Korrespondentenposten der Basler Zeitung. Fünf Jahre lang hat Schibli innen- wie aussenpolitische Vorgänge und Entwicklungen in den USA beobachtet und in Berichten, Kommentaren, Reportagen oder Hintergrundbeiträgen festgehalten. Schibli, der 1989 bis 1995 als Deutschland-Korrespondent gearbeitet hatte, kehrt nach Basel zurück und wird in der Redaktion neue Aufgaben übernehmen. Die Nachfolge in Washington wird im Juli Dieter Ostermann antreten, der für die BaZ früher aus Moskau berichtet hat. (Juni 2000)

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