Sonntag, Dezember 17, 2006

Wie das Alphorn nach Helvetia kam


Trachtenmädchen drehen sich im Kreis, Alphornbläser spielen, ein Fahnenschwinger zeigt sein Können: Nicht nur auf dem Männlichen, auch in den abgelegenen Bergen West Virginias wird Schweizer Brauchtum gepflegt. Ein Augenschein im amerikanischen Dorf Helvetia.

Durch dunkle Wälder, vorbei an eingestürzten Hütten und ausgebeuteten Kohlebergwerken windet sich die Strasse durch die Appalachen. Bewohnte Siedlungen sind hier rar. Umso grösser ist die Überraschung, als am rechten Wegrand plötzlich ein «Schweizer Haus» auftaucht: Ein weisses Kreuz auf rotem Grund sowie mehrere Kantonswappen zieren den Holzanbau.

Von Peter Schibli, Helvetia

Helvetia heisst die vor 130 Jahren von Schweizern und Deutschen gegründete Kolonie. Eine Kirche, ein Museum, eine Bibliothek, ein Käserei-Stadel und ein Restaurant von damals sind noch erhalten und erinnern an die Pioniere, die im letzten Jahrhundert aus den Kantonen Bern, Zürich, Aargau, St. Gallen und Appenzell-Ausserrhoden in die Neue Welt kamen.

In Brooklyn (New York) warteten die im Grütli-Verein organisierten Männer und Frauen das Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs ab, bevor sie sich in der Appalachen-Wildnis nach billigem Farmland umsahen. Im dünn besiedelten West Virginia, dem 1863 frisch gegründeten Bundesstaat, wurde ein sechsköpfiges Erkundungskomitee fündig. Im Winter 1869/70 zogen die ersten Familien mit den vertrauten Namen Müller, Zumbach, Suesli, Holzweg, Schilling, Eckart, Karlen, Tögler, Fischer, Metzner, Hässig, Dätwyler, Marti und Zielmann vom Hudson River in das abgelegene Bergtal. Andere kamen aus Ohio und Pennsylvania. Zur ersten Einwandererwelle gehörten Zimmerleute, Maurer, Käser, Schuh- und Hutmacher sowie ein Lehrer, ein Pfarrer und ein Arzt.

Harter Überlebenskampf

Gemeinsam errichteten die Pioniere auf 730 Meter über Meer primitive Blockhütten, bauten Kartoffeln sowie Mais an, weideten an den Abhängen Vieh und trieben Handel. Von den Nachbarn lernten sie das Jagen. 1872 öffnete der erste Dorfladen. Zwei Jahre später konnte eine kleine Kirche eingeweiht werden. 1874 zählte Helvetia 380 Einwohner; um die Jahrhundertwende waren es 500.

Doch die Wachstumsperiode dauerte nicht lange. Zwischen 1940 und 1945 zogen vierzig Schweizer für die amerikanische Armee in den Krieg. In Washington hatten die «Helvetier» den Ruf, loyale Soldaten zu sein. Nach dem Krieg verstärkte sich die Abwanderung gar noch: Arbeitslosigkeit trieb die Menschen in die Industriestädte. Die lokalen Sägereien und der Bergbau konnten nicht alle ernähren.

Heute leben in Helvetia und Umgebung gerade noch 120 Personen. Die meisten haben Schweizer Vorfahren. Einige wenige sind aus Liebe zu «ihrem» Ort zurückgekehrt: Eleanor F. Mailloux, Tochter eines Zürchers und einer Britin, verbrachte zwei Jahrzehnte auf Guam im Pazifik und versucht seit ihrer Heimkehr, den «helvetischen Dorfgeist» am Leben zu erhalten. Die Bibliothekarin Darlene Lucas wurde in Helvetia geboren, zog als vierjähriges Mädchen mit den Eltern weg und kam vor zehn Jahren an den Ort ihrer Kindheit zurück.

Wirtschaftliche Schwierigkeiten

Die Abwanderung zu stoppen und der Bevölkerung ein wirtschaftliches Auskommen zu bieten ist keine leichte Aufgabe. Die Gründung der Firma «Tree Water», die seit einem Jahr aus der Ahornsaft-Produktion Wasser gewinnt und in Flaschen abfüllt, bildet die erfreuliche Ausnahme. Doch Eleanor Mailloux hofft auf weitere Investoren: Im kommenden Jahr soll die stillgelegte Käserei reaktiviert werden. Geld zu verdienen wäre auch durch einen Ausbau des Tourismus (Langlauf, Mountain-Biking) und in einer Töpferei.

Trotz des harten Alltags fehlt es den Helvetiern nicht an Lebenslust. Eine Volkstanzgruppe, eine Kindertanzgruppe und ein gemischter Chor pflegen das Brauchtum der Vorfahren. Den Weg ins Tal gefunden haben auch ein Alphornbläser sowie ein Taler- und ein Fahnenschwinger. Bruce Betler, ein musikalisches Multi-Talent, repräsentiert die junge Generation. Der 74-jährige Vernon Bürki und sein 76-jähriger Bruder Norm, die noch gebrochen Berndeutsch sprechen, besingen als Senioren-Duett die Schönheit der Schweizer Alpen.

Verwandtenbesuch aus dem Tal

Zweimal pro Jahr feiern die Helvetier rustikale Feste: Seit 1913 begehen sie jeweils im September gemeinsam mit Freunden und Verwandten die «Swiss Fair». Höhepunkte der einstigen Landwirtschaftsschau sind eine Parade sowie musikalische Vorträge. Abends vergnügen sich Zugereiste und Einheimische beim «Square Dance». Jeweils am Samstag vor Aschermittwoch versuchen die Helvetier, auf einer Fasnachtsparty den Winter zu vertreiben.

1979 wurde Helvetia in das «National Register of Historical Places» aufgenommen. Dies motiviert die Dorfbewohner, die alten Gebäude vor dem Zerfall zu retten. Eleanor Mailloux fordert mehr: «Wir brauchen dringend junges Schweizer Blut und willige Investoren», sagt die Wirtin, die in ihrem Restaurant Bratwurst, Sauerkraut, Zürcher Braten, Apfelmus und «Bölewähe» serviert.

Dem Aufruf gefolgt ist im vergangenen August eine Walliser Schülergruppe. Die Jugendlichen aus St. Martin bei Sion wohnten während ihres zweiwöchigen Kulturaustauschs bei Gastfamilien und lernten das karge Leben in West Virginia kennen. Die Helvetier hoffen nun, eines Tages die bewunderte Heimat ihrer Vorfahren persönlich kennen zu lernen.


West Virginia

ps. Der US-Bundesstaat West Virginia gilt als das «Armenhaus Amerikas»: Die Bevölkerung verfügt über das niedrigste Durchschnittseinkommen der Nation. Eine hohe Arbeitslosigkeit, gepaart mit einem nicht versiegenden Abwandererstrom, hat das Durchschnitts-alter der Bevölkerung auf das US-Rekordniveau von 38,6 Jahren hinaufgeschraubt. West Virginia zählt zwei Millionen Einwohner, ist aber mit einer Fläche von 62 629 Quadratkilometern gut ein Drittel grösser als die Schweiz. (Basler Zeitung 1999)

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