Sonntag, Dezember 31, 2006

Wie US-Marines für den Kosovo-Einsatz gedrillt werden


Im Rahmen der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind seit vergangener Woche auch 2200 US-Marines im Kosovo im Einsatz. Wie werden die amerikanischen Elitesoldaten der 26. Expeditionseinheit auf ihre gefährliche Aufgabe vorbereitet? Die BaZ hat in einer Rekrutenschule in South Carolina einen Augenschein genommen.

Minen räumen, Flüchtlinge beschützen, Verwundete verarzten, Brücken und Strassen flicken, Transportwege erkunden und bei all diesen Aufgaben die eigene Sicherheit nicht vernachlässigen: Die Anforderungen an die Soldaten der Internationalen Friedenstruppe (Kfor) sind hoch, weshalb nur die Besten geschickt werden. Mit von der Partie sind 2200 amerikanische Marines.

Von Peter Schibli, Parris Island

Dass die Elitesoldaten als erste US-Einheit in den Kosovo einmarschiert sind, ist kein Zufall. Marines sind eine Mischung aus Armee- und Navy-Angehörigen: Sie kämpfen sowohl zu Land als auch auf hoher See. Weil sie vorzugsweise zur Evakuierung von Zivilpersonen eingesetzt werden, nennt man sie auch «Amerikas 911» (Notfallnummer). Physische und psychische Härte, absoluter Gehorsam sowie die Bereitschaft, im Gefecht zu sterben, gehören zu ihren Markenzeichen.

Auf der Insel Parris Island, südlich der Stadt Charleston, werden Schulbuben und Schulmädchen in einer dreimonatigen RS zu Marines geschmiedet. Wer das 17. Altersjahr überschritten hat und auf die angenehmen Seiten des Zivillebens verzichten kann, ist willkommen.

Weitere Aufnahmebedingungen sind ein eiserner Wille sowie körperliche Fitness: Männer müssen mindestens zwei Klimmzüge und 44 Rumpfbeugen in 30 Sekunden absolvieren sowie 2,1 Kilometer in 13 Minuten laufen können. Von Frauen wird verlangt, dass sie zwölf Sekunden lang an beiden Armen hängen, in zwei Minuten 44 Rumpfbeugen hinlegen und in zehn Minuten 1,6 Kilometer weit laufen können. «Durch diese Türen schreiten die Anwärter für Amerikas edelste Streitmacht», heisst es über dem Portal des Aufnahmegebäudes. Stolz versichert der Kommandant den Besuchern: «Wir sind die allseits bereiten Wächter der Nation.» 97 Prozent der Rekruten kommen direkt von einer High-School nach Parris Island. Die wenigsten sind verheiratet. Für viele ist es die erste längere Trennung vom Elternhaus. Heimweh gehört zum Alltag.

Verlust der Identität

Auf den gelben Fusstritten vor dem Aufnahmegebäude merkt ein Rekrut sehr schnell, dass hier neue Regeln gelten: «Du bist nichts, kannst nichts. Wir machen einen Marine aus dir», schreit der Drill-Instruktor (DI). Ab sofort darf nicht mehr in der Ich-Form geredet werden. «Ich muss aufs Klo» heisst in der Marine-Sprache: «This recruit has to make a head-call.» Statt zum Essen geht man zum «Chow». Jeder Vorgesetzte wird mit «Sir» angesprochen.

Während der gesamten RS sind Radio und Fernsehen verboten. Zeitungen gibt es nur an Sonntagen. Alle persönlichen Utensilien werden nach Hause geschickt. Ausnahme: Eine Bibel, Familienfotos und ein Adressbuch sind erlaubt. Der Verlust der persönlichen Identität während der beiden ersten RS-Monate ist ein zentrales Ziel der Ausbildung.

Koedukation wird - anders als bei der Armee oder der Navy - nicht gepflegt. «Separat, but equal» (getrennt, aber gleich) lautet das Trainings-Motto: Weibliche Rekruten werden in separaten Trainings-Bataillonen ausgebildet. Einzige Konzession an den weiblichen Körperbau: Einige Hindernisse im Gelände sind weniger hoch.

Unterschiede zwischen den Rassen werden keine gemacht. «Es gibt keine weissen, schwarzen oder gelben Marines. Es gibt nur grüne Marines», besagt eine Redeweise. Ledige Rekruten erhalten monatlich 887 Dollar. Nach vier Monaten steigt der Lohn eines Marines auf 959 Dollar. Von dem Geld müssen die Uniform sowie persönliche Utensilien bezahlt werden.

Genügend Nachwuchs

Trotz der harten Lebensbedingungen im Camp hat das Marine-Korps keine Nachwuchsprobleme. Derzeit melden sich ausreichend junge Männer und Frauen zum Dienst in der Eliteeinheit. Ob das bei einer weiterhin florierenden Konjunktur, grosszügigen College-Stipendien und der zunehmenden Verweichlichung der jungen Generation so bleibt, ist mehr als fraglich.

Schwerpunkte in der Grundausbildung sind das tägliche «Physical Training» (Turnen), der «Close order drill» (Waffendrill mit Marschieren) und das Erlernen der «Core Values» (Kernwerte). Im Auditorium doziert Feldprediger Moreland was man unter «Honor, Courage and Commitment» versteht. «Respekt und Würde, niemals stehlen, lügen oder betrügen», lauten die Ausbildungspunkte beim Verhalten. «Mut» soll nicht nur unter Schönwetter-Bedingungen, sondern auch «unter Stress, Druck und Lebensangst» bewiesen werden. «Commitment» (Aufopferung) wird «rund um die Uhr für das Korps und das Land» verlangt. Im Auditorium sinken einige müde Köpfe auf die Tische. Die Instruktoren sorgen dafür, dass Rekruten wach bleiben.

Wer einmal unterschrieben hat, kann nicht grundlos aufgeben und nach Hause fahren: Austritte sind nur aus gesundheitlichen Gründen möglich. Militärpsychologen und Ärzte beurteilen, ob jemand dem Stress nicht gewachsen ist oder aus Bequemlichkeit simuliert. Verletzungen werden von Chirurgen beurteilt. Die Abbruchquote beträgt 17 Prozent bei den Männern und 22 Prozent bei den Frauen.

Drill und Gebrüll

Gefürchtet sind die Methoden der Marine-Ausbildner: Die Instruktoren gehen zuweilen bis an die Grenze des Machtmissbrauchs: Während des Drills wird gebrüllt, gedrängelt, gedrückt und geschunden. Wer nicht im Schritt geht oder den Arm im falschen Winkel beugt, wiederholt die Übung, bis der Sergeant zufrieden ist. Kinofilme wie «Forrest Gump» oder «Sands of Jwo Jima» haben ein Negativimage geschaffen, das Drill-Instruktoren als brutale, hinterlistige und böse Menschen zeigt. Major Mike Mullins, Direktor der DI-Schule, wehrt sich gegen dieses Bild: Es entspreche nicht der Wirklichkeit. Körperliche Gewaltanwendung sowie verbale Diffamierung seien tabu.

Rekruten, die sich schikaniert oder in ihren Rechten verletzt fühlten, hätten ein Klagerecht, betont er. Ein Blick in die Statistik zeigt: Jährlich muss jeder zweite Drill-Instruktor eine Disziplinaruntersuchung über sich ergehen lassen. Viele werden für Fehlverhalten gerügt.

Die umstrittenen Methoden, den Drill, das Anschreien und den bedingungslosen Gehorsam, verteidigt Major Mullins. «Diese Formen der soldatischen Grundausbildung haben sich in den letzten hundert Jahren bewährt. Rekruten sind nicht hier, um unsere Befehle in Frage zu stellen, sondern um Gehorsam zu lernen. Das ist auch im Kosovo so», ergänzt er.

Grosse Verantwortung

Ein Besuch auf dem Sportplatz einer Frauenkompanie beweist, dass Rekrutinnen nicht weniger angebrüllt werden als ihre männlichen Kollegen. Gunnery-Sergeant Ann Hubbard bildet pro Jahr dreihundert junge Frauen aus. Ihre Arbeit beschreibt sie als «grosse Verantwortung» und «Spass». Sie empfinde Genugtuung, wenn die jungen Marines nach der zwölfwöchigen Ausbildung das Camp mit Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl verliessen, erläutert die 32jährige Mutter eines 16monatigen Sohnes.

Kritischer sieht es die 26jährige Dara Frye: Ihr Mann, der auf Parris Island als Instruktor arbeitet, könne in Gegenwart von Rekruten «ganz schön brutal werden», weiss sie zu berichten. Weibliche Drill-Instruktoren liefen «mit zuviel Testosteron herum». Insgesamt aber respektiert sie die Arbeit der Marine-Ausbildner: Jeder müsse «auf seine Weise glücklich werden», versichert Dara.

Der Präsident sagt, wohin

Nach der Rekrutenschule dislozieren die meisten Marines ins Camp Lejeune (North Carolina), wo sie an der dortigen Infanterie-Schule eine mehrwöchige Kampfausbildung erhalten. Anschliessend werden sie rund um den Globus bei der Bewachung von US-Botschaften, auf Flugzeugträgern oder im Kosovo eingesetzt.

Wer wo Dienst tut, entscheidet nicht der einzelne Soldat. «Wir gehen dahin, wo uns der Präsident schickt», versichert Hauptmann Keith Faust, Medienoffizier auf Parris Island, und ergänzt, selbstverständlich wäre er derzeit gerne im Kosovo mit dabei: «Da können wir Marines uns für den Frieden engagieren und Verfolgten beistehen.»

Den letzten Härtetest absolviert: Die Rekruten auf dem Camp in Parris Island marschieren zum Marine-Denkmal, wo sie in einer patriotischen Zeremonie zu Marines befördert werden. Fotos ps.

«Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir»

Parris Island.
ps. Der Einsatz im Kosovo ist kein Zuckerschlecken. Während der Feuerprobe «The Crucible» werden die Rekruten einem letzten Härtetest unterzogen: In 54 Stunden marschieren sie 67 Kilometer weit und bewältigen 29 Aufgaben. Ziel ist es, die Kompanien zu funktionierenden «Teams» zusammenzuschweissen.

Kampfbahn im Wald

311 Rekruten des 1. Bataillons werden am Donnerstag der 11. Ausbildungswoche kurz nach ein Uhr morgens geweckt. Auf dem «Page Field», einer ausgemusterten Betonpiste mitten im Wald, absolvieren sie im Dunkeln eine erste Kampfbahn. Über Langhölzer, eine Ladenwand sowie unter Stacheldraht durch führt der Kurs, bis zum Schluss grüne «Dummies» (Gummipuppen) mit dem Bajonett erstochen werden. Rekrut Cambell prescht zu weit vor und wird von seinem Zugführer zurückgepiffen. Im Kosovo wäre er möglicherweise Opfer einer Landmine geworden.

Kräfteverschleissend sind die körperlichen Anforderungen: Beim «Jenkin's Pinacle» liegt ein Baumstamm in fast zwei Metern Höhe. Die beiden stärksten Jungs klettern auf das Hindernis und ziehen - auf dem Stamm sitzend - ihre Kameraden mit vereinten Kräften über den Balken. Wer seine Waffe vergisst, muss das Hindernis in umgekehrter Richtung überklettern. Rekrut Christel schafft die Rosskur auf Anhieb. Als Pfadfinder verbrachte er viel Zeit in der freien Natur. Bereits sein Grossvater war Angehöriger des Korps. «Die Marines machten mir das beste Angebot: Wenn ich nach vier Jahren dabei bleibe, erhalte ich ein Stipendium und kann meinen Lebenstraum verwirklichen: Ich will Geschichtslehrer werden», erzählt der 20jährige.

Den Stress, das Sich-Anschreien-Lassen, die Erniedrigung hat Christel inzwischen akzeptiert. Von den Drill-Instruktoren werde er «hart, aber fair behandelt», berichtet er. Nach zwölf Stunden im Wald fühle er sich noch fit und motiviert, ergänzt der Rekrut, bevor er von seinen Kameraden durch einen aufgehängten Autoreifen («Mackie's Passage») geschoben wird. Vor einem Nachtmarsch und einer Infiltrationsübung dürfen sich die angehenden Marines erstmals verpflegen. Während er sein MRE («Meal Ready to Eat») verdrückt, klagt Rekrut Smart über Müdigkeit. «Ich möchte mich hinlegen. Ob ich die verbleibenden 36 Stunden durchhalten werde, weiss ich nicht», murmelt der 19jährige erschöpft vor sich hin. Sergeant Bliss beseitigt die aufkommenden Zweifel: «Aufstehen, Zusammenpacken, Abmarsch», befiehlt der Drill-Instruktor.

Am Freitag morgen nimmt das Platoon die nächsten sechs Hindernisse in Angriff. Erdrückend wiegt der zwölf Kilo schwere Rucksack. Rekrut Cambell beklagt sich über Blasen an den Füssen. «Hinsetzen, einpudern und verbinden», befiehlt der Sergeant. Cambells Kameraden nehmen «Cecula's Wall», eine drei Meter hohe Holzwand, in Angriff.

Ein Lebenstraum

Die Absolvierung von «Sergeant Gonzalez' Crossing» erfordert «Köpfchen»: Es gilt, einen Verwundeten an einem hängenden Seil über drei Holzplattformen zu transportieren. Tüchtig Schwung im richtigen Winkel und das zuverlässige Einschätzen der Distanzen helfen bei der Bewältigung der Aufgabe. Weil die Übung in der Gasmaske absolviert werden muss, sind die dumpfen Befehle nur schwer zu verstehen.

Rekrut Childress aus Michigan weiss seit RS-Beginn, worauf er sich eingelassen hat. «Es war mein Lebenstraum, Marine zu werden. Als Autobauer bei General Motors würde ich wesentlich mehr verdienen und ein leichteres Leben führen. Aber dieser Rekrut sucht das Abenteuer, den Nervenkitzel. Er will um die Welt reisen und fremde Länder sehen», erzählt der 24jährige in der dritten Person und ergänzt: «Ins Marine-Korps eintreten bedeutet für ihn: Zu den Besten gehören.»

In einem Zelt behandelt der Zug die für Marines typischen Werte, die «Core Values». In Frag- und Antwortspiel leiern die Rekruten «Honor, Courage, Commitment» herunter und erläutern, was sie darunter verstehen. «Are we here to help?», fragt der Drill- Instruktor scharf. «Sir, yes Sir», lautet die einstimmige Antwort. «Mögen wir Verluste?» «Sir, no Sir», «Are we a team?» «Sir, yes Sir», «Fürchten wir uns vor dem Sterben?» «Sir, no Sir», schreit es aus 15 Kehlen.

Rekrut Childress ist die Müdigkeit anzusehen: Er könnte mit offenen Augen schlafen, klagt er. «Gemeinsam hat das Platoon Rekrut Cambell geschleppt, als er wegen seiner Blasen nicht mehr weiter konnte», erzählt sein Banknachbar. Als Individuen seien sie jetzt nicht mehr funktionstüchtig, erläutert der Sergeant. Den «Crucible» könnten sie nun nur noch im Team bestehen. Motiviert und das Ziel vor Augen, nimmt das Platoon die zweite Nacht in Angriff. Vor einer Evakuierungsübung wird das letzte MRE verzehrt. Jeweils zwei Rekruten teilen sich in eine Packung. Auch dies ist eine «Gruppenübung». Die Sandfliegen werden immer aufdringlicher. Das Nachtschiessen will kein Ende nehmen.

Nach elf Wochen am Ziel

Doch dann wird es langsam Tag. Gemeinsam verlassen Drill-Instruktoren und Rekruten den Wald, reissen sich ein letztes Mal zusammen und marschieren in Sechserkolonnen unter Kriegsgeheul beim Pectross-Parade-Deck ein. Vor dem Marine-Denkmal versammeln sie sich am Samstag morgen pünktlich um 7.45 Uhr. Aus einem Lautsprecher dröhnt der Sousa-Marsch «Stars and Stripes». Das Sternenbanner geht am Mast hoch. Der Feldprediger betet: «Wir sind hungrig, wir sind durstig, aber wir sind angekommen.» Dann kommt der Moment, dem alle Rekruten elf Wochen lang entgegengefiebert haben: Aus der Hand ihrer Drill-Instruktoren erhalten die Gedrillten das Marine-Abzeichen, einen schwarzen Metall-Pin mit Adler, Globus und Anker. Ab sofort sind sie nicht mehr Rekruten, sondern Marines. Ab sofort dürfen sie wieder in der Ich-Form reden. Ab sofort sind sie für den Einsatz im Kosovo gerüstet.

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