Samstag, Januar 06, 2007

Zerfall bedroht das Pioniergefängnis von einst


Bei seiner Eröffnung war es das modernste Gebäude der Vereinigten Staaten, eine Pioniereinrichtung: Heute, 168 Jahre später, droht dem Staatsgefängnis in Philadelphia der Zerfall. Um das historische Bauwerk zu retten, werden mehrere Millionen Dollar benötigt.

Der Gang durch die fünfzehn Zellenblocks wird zum niederschmetternden Erlebnis: Von den Wänden blättert der weisse Verputz. Wasserleitungen rosten vor sich hin. Zellentüren und Eisengitter lassen sich nicht mehr bewegen. Der Esswagen, mit dem die Gefangenen während Jahrzehnten verpflegt worden waren, bricht auseinander. Im Innenhof wuchert das Unkraut.

Von Peter Schibli, Philadelphia

Das «Eastern State Penitentiary» (ESP) zählt zu den berühmtesten Gebäuden der USA. Doch der Zahn der Zeit nagt unübersehbar an dem historischen Bauwerk. Zwar steht das Staatsgefängnis in Philadelphia auf der Liste des «World Monuments Fund». Doch eine Rettung des Monuments ist gegenwärtig nicht in Sicht.

Revolutionäre Einrichtungen

Einer gotischen Burg ähnlich trotzt das Gefängnis seiner Umgebung, der Innenstadt von Philadelphia. Zehn Meter hohe und drei Meter dicke Granitmauern umgeben die speichenförmig um eine Rotunde angeordneten Zellenblocks. Knarrend dreht sich der Schlüssel im Schloss. Wir treten ein. Rechts des Hauptportals befindet sich der erste Block. In der zwei auf drei Meter grossen Zelle stehen ein Metallbett, ein Tisch und eine WC-Schüssel. - Revolutionär waren diese sanitären Einrichtungen im Eröffnungsjahr 1829 (verfügte doch damals nicht einmal das Weisse Haus über fliessendes Wasser). Eine Zentralheizung sorgte im Winter für Wärme. Jede Zelle verfügte über einen eigenen «Excercise Court», in dem sich die Insassen täglich eine Stunde lang fit halten konnten.

Das Bauwerk war von der «Gesellschaft zur Verbesserung der Zustände im Gefängniswesen» («Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons») geplant worden. Der Architekt John Haviland hatte 1822 mit der Realisierung begonnen. Die Eröffnung fand sieben Jahre später, 1829, statt. Mit Kosten in Höhe 780 000 Dollar war der Bau zu seiner Zeit das teuerste Gebäude in den USA. Rund dreihundert Gefängnisse in aller Welt wurden nach diesem Vorbild gebaut.

Revolutionär war im 19. Jahrhundert auch die Philosophie des im ESP praktizierten Strafvollzugs: Nach Überzeugung der Quäker sollten die Gefangenen durch Arbeit, Isolationshaft und Reflexionen über ihre Sünden resozialisiert werden. «Beten und sich bessern» lautete der Slogan des «Pennsylvania-Systems».

Ein «Auge Gottes»

Die weiss gestrichenen Zellen repräsentierten Reinheit und den Wunsch nach Vergebung. Eine Öffnung in der Decke, durch die Tageslicht eindrang, wurde «Auge Gottes» genannt. Doch je mehr Gefangene in der Einrichtung untergebracht wurden, desto stärker geriet die resozialisierende Funktion der Freiheitsstrafe in den Hintergrund. Unter dem Einfluss des Zeitgeistes und dem massiven Anstieg der Verbrecherzahlen wurde das Experiment 1913 für gescheitert erklärt. Repressive Strafen, Vergeltung und Sühne dominierten fortan den Gefängnisalltag.

Umstritten war der Pionierbau bereits im letzten Jahrhundert. Alexis de Tocqueville stellte 1831 nach einem Besuch fest, der in Philadelphia praktizierte Strafvollzug führe den Gefangenen «durch Reflexion zur Reue und durch die Religion zur Hoffnung». Weniger begeistert zeigte sich 1842 Charles Dickens. Er schrieb in den «American Notes», moderner Strafvollzug sei «schlimmer als körperliche Folter».

Die vier Hektaren grosse Haftanstalt diente 142 Jahre lang für den Vollzug von Freiheitsstrafen nicht unter zwei Jahren. Wer weniger aufgebrummt erhielt, wurde an ein «Gemeindegefängnis» überwiesen. Berühmtester Gefangener war der Gangsterboss aus Chicago, Al Capone, der 1929/30 in Philadelphia inhaftiert war. 1924 wurde im ESP gar ein Hund einquartiert: Pennsylvanias Gouverneur Gifford Pinchot hatte den Vierbeiner Pep wegen der Tötung einer Katze zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt.

Nach dem Auszug der letzten Gefangenen im Jahr 1971 begann der Streit über eine Nutzungsänderung. Der Detailhandel wollte Boutiquen und Spezialgeschäfte unterbringen. Zeitweise war gar von einem Shopping-Center die Rede. Doch die Traditionalisten trugen bis heute den Sieg davon.

Um Subventionen gebeten

Seit drei Jahren sind Teile des ESP ein Museum. Da die Eintrittsgelder für die Renovationsarbeiten nicht ausreichen, hat das Betreiberkomitee den Bundesstaat Pennsylvania um Subventionen gebeten. Nach Angaben von Programmdirektor Sean M. Kelly will der Staat in den kommenden fünf Jahren jährlich eine Million Dollar für Renovationsarbeiten zur Verfügung stellen, wenn durch Museumseinnahmen, Sonderveranstaltungen und Sammlungen mindestens vier Millionen Dollar zusammenkommen. Kelly glaubt, dass die kommenden zwei Jahre über das Schicksal des Mahnmals (Abriss oder Erhalt) entscheiden werden. 25 Millionen Dollar würden nach seinen Berechnungen für die Restauration benötigt.

Schützenswert

Philadelphia. ps. Der «World Monuments Fund», eine internationale, nicht-profitorientierte Organisation, hat im Mai 1996 erstmals eine Liste mit den hundert am stärksten gefährdeten Baudenkmälern der Welt veröffentlicht. Ausser dem «Eastern State Penitentiary» befinden sich die Altstadt von Dubrovnik, Neros Palast in Rom, der Taj Mahal in Indien, die Tempel von Angkor in Kambodscha sowie die Belvedere-Gärten in Wien darunter.

Zur Rettung der Anlagen wurden bisher vier Millionen Dollar gesammelt. Am kommenden 5. September will die Stiftung eine aktualisierte Liste mit erhaltenswerten Bauwerken veröffentlichen und ihren Spendenaufruf erneuern.

Mustergefängnis

Das Gebäude zählt zu den berühmtesten der Vereinigten Staaten: Die Renovation des ehemaligen Mustergefängnisses im Zentrum der Stadt Philadelphia würde rund 25 Millionen Dollar kosten. Noch steht nicht fest, ob sie aufzubringen sind.

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