Mittwoch, Januar 10, 2007

«Der Deutschen glücklichster Tag»


Nachdenklich-verhalten und ohne Jubeltöne wie beim Fall der Mauer feierte Deutschland vor zehn Jahren die Wiedervereinigung. Mit von der Partie waren Politiker, die seither aus dem Rampenlicht verschwunden sind. Erinnerungen unseres damaligen Deutschland-Korrespondenten.

Im Oktober 2000 fuhren schwarze Limousinen mit ausländischen Staatsgästen durch die Strassen Berlins. In der Philharmonie sprach Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl auf einem Staatsakt vom «glücklichsten Tag der Deutschen». Am Fernsehen rief Bundeskanzler Helmut Kohl seine Landsleute zur Solidarität auf. Zu den Klängen der Freiheitsglocke wurde punkt Mitternacht vor dem Reichstag die schwarz-rot-goldene Bundesflagge gehisst.

Von Peter Schibli

Der 3. Oktober 1990 beschloss einen Prozess, der elf Monate zuvor, am 9. November 1989, mit dem Fall der Berliner Mauer begonnen hatte: 16,4 Millionen Ostdeutsche gehörten nun auf einen Schlag zur Bundesrepublik. Die Deutsche Demokratische Republik, die 41 Jahre lang bestanden hatte, existierte plötzlich nicht mehr. Über die Stadt und das Land ging ein gewaltiges Feuerwerk nieder.

Doch die Stimmung hatte sich verändert: In den Tagen des Mauerfalls war ausgelassen gefeiert worden. Am «Checkpoint Charlie», vor dem Brandenburger Tor, an der Glienicker Brücke lagen sich die Menschen in den Armen. Mit Sekt und Bier wurde die Ankunft der «Brüder und Schwestern» aus dem Osten begossen.

Gedämpfte Schlagzeilen

Skepsis, Nachdenklichkeit, ja Unsicherheit verdrängten die Ausgelassenheit, als im Herbst 1990 der «Schnellzug Deutsche Einheit» in den «gesamtdeutschen Bahnhof» einfuhr. Die Parlamente beider Staaten hatten den Einigungsvertrag verabschiedet, die D-Mark galt fortan auch in den neuen Bundesländern.

Der Stimmungswandel kam in den Schlagzeilen besonders deutlich zum Ausdruck: Mitte November 1989 hatten die Zeitungen noch getitelt: «Deutsches Volk das glücklichste der Welt» («Die Welt»), «Mauer und Stacheldraht trennen nicht mehr» («FAZ»), «Die DDR bricht die Mauer auf» («Süddeutsche») oder «Wer jetzt noch schläft, der ist schon tot» («Stern»).

Ein Jahr später klang es plötzlich nüchterner: «Die deutsche Einheit ist vollendet» («Tagesspiegel»), «Gute Nacht DDR, guten Morgen Deutschland» («Der Morgen»), «Ein Jahr danach: Mehr Tücken als Brücken» («Neues Deutschland»), «Deutsche Einheit vorschriftsmässig abgefeiert» («Tageszeitung»). Im Oktober 1990 war die Stimmung nicht mehr überschäumend, sondern nachdenklich.

Viele der deutsch-deutschen Akteure sind inzwischen von der politischen Bühne verschwunden. Einer von ihnen hiess Lothar de Maizière. Am Vorabend der Wiedervereinigung hatte der letzte Ministerpräsident der DDR eine Gruppe von Auslandjournalisten in sein Büro eingeladen, um die Ereignisse zu rekapitulieren. In leisen Tönen gestand er ein, das Tempo wie die Eigendynamik der «friedlichen Revolution» unterschätzt zu haben. Nun hoffe er, dass insbesondere die Rentner «nicht unter die Räder kommen».

Kritischer gab sich Bärbel Bohley, Mitbegründerin der Bürgerbewegung «Neues Forum»: Die «Mutter der Revolution» erklärte mir noch am Tag der Wiedervereinigung, sie halte die Entwicklung für «überstürzt». Die Menschen im Osten würden «übergangen» und «überfordert».

Kohl gegen Lafontaine

Der unsägliche Parteienstreit über den Weg zur Wiedervereinigung und die Verdienste dafür brodelte schon vor zehn Jahren: Auf den Vereinigungsparteitagen der CDU in Hamburg und der SPD in Berlin duellierten sich Bundeskanzler Kohl und der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine. Kohl warf der SPD Versagen vor, zelebrierte die Christdemokraten als «Partei der Einheit» und sich selbst als deren Motor.

Derweil setzte Lafontaine seine Sozialneid-Kampagne fort: Die schutzlose Einführung der D-Mark in der DDR sei ein «grosser Fehler» gewesen. Die Einheit könne durch den Westen nicht finanziert werden, rief er den Genossen zu. Zehn Jahre später wissen wir: Kanzler Kohl ist in Tat und Wahrheit der «Spendenmotor» der CDU gewesen. Oskar Lafontaine zog es vor, sich gänzlich aus der Politik zu verabschieden.

Belastende Langzeitfolgen

Während sich 1990 viele Ostdeutsche gegen einen überstürzten Anschluss, gegen die Vereinnahmung des Ostens durch den Westen wehrten, ist die Einheit heute Alltag. Die Konsequenzen sind dadurch nicht einfacher geworden: Arbeitslosigkeit, teure Mieten und hohe Steuern belasten die Deutschen in Ost und West.

Für die Rentnerin Gertrud Hübner, die ich während der Wendezeit in Erfurt kennen lernte, ist die Wiedervereinigung «alles andere als eine Erfolgsgeschichte»: Der 3. Oktober ist für sie kein Grund zum Jubeln. «Warum gibt es bei uns so viele Arbeitslose? Warum wird alles aus dem Westen herangekarrt? Warum stehen so viele Wohnungen leer?», fragte sie mich unlängst und stellte verbittert fest: «Das Gesundheitswesen war früher sozialer, humaner. Die neuen Ärzte sind verbürokratisierte Beamte, keine Mediziner mehr.»

Wie Recht hatte doch Bundespräsident Roman Herzog, als er zum fünften Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung erklärte: «Nach vierzig Jahren Teilung benötigen wir eine Generation, um die Folgen des Getrenntseins wirtschaftlich wie gesellschaftspolitisch zu überwinden.» (Publiziert am 3.10.2000 in der Basler Zeitung)

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