Bfüerti

Gleich am Dorfeingang von Bezau treffen wir auf ein geöffnetes Detailhandelsgeschäft. Dringend benötigen wir noch ein paar Lebensmittel fürs Wochenende. Zügig füllen wir den Einkaufskorb und zahlen an der Kasse. Die Verkäuferin verabschiedet uns mit einem herzaften „Bfüerti“. Gleiches hören wir auf dem Parkplatz. „Bfüerti“, sagt eine Bezauerin zu ihrer Nichte und steigt ins Auto. „Bfüerti“ ruft die Passantin zum Velofahrer, der gerade vorbeistrampelt.
„Bfüerti“, in bernischen Breiten unüblich, ist ein volkstümlicher Wunsch: „Ich verabschiede mich“ im Sinne von: „Auf Wiedersehen. „Bfüerti“ sagt man an jeder Ecke. In Bezau sind die Menschen noch sehr freundlich und gar nicht anonym.
An mehreren Holzkreuzen vorbei fahren wir zur Kirche. Mächtig, autoritär, trotzig steht sie zwischen Kloster, Dorfstrasse, Friedhof und Hotel Engel (nomen est omen) da, wo sie hingehört: mitten im Dorf. Auf dem Land, wo der Pfarrer, der Lehrer und der Dorfarzt noch als Autoritäten gelten, sind wenig Anzeichen von Veränderungen zu sehen. Die Holzhäuser, der Brunnen, die Stallungen stehen seit vielen Jahren am gleichen Ort. Ab und zu ändert der Besitzer eines Hotels oder eines Geschäfts. Ein normaler Vorgang: Die alte Generation macht der jungen Platz.
Doch abgeschoben wird niemand. Im Gegenteil: Vor dem Hotel Sonne spaziert eine Enkelin und führt ihre Oma am Arm. Alt und jung gemeinsam. Hier gelten noch bodenständige Werte wie Respekt, Verbindlichkeit, Treue, Glauben sowie Vertrauen. Hier ist man konservativ und fährt nicht schlechter als in der schnelllebigen, rot-grünen, modernisierten Stadt. Frische Luft, aufgestellte Menschen, ein ordentliches Ortsbild – in Bezau ist die Lebensqualität mit den Händen zu greifen.
D‘ Zün abelege

„Bergkäse zu verkaufen“ steht am Tenn. Den um die Ecke biegenden Knecht grüssen wir und fragen, nach dem Käsekeller. Er murmelt etwas von Anneli, choufe, Zün abelege und Vieh uselah. Auf Geheiss holt eines der im Hof spielenden Kinder die Mutter. Anneli freut sich sichtlich über unser Interesse an ihrem Bergäse. Sepp, der Knecht, auch. Er plaudert in Chauderwelsch, offensichtlich leicht behindert, vor sich hin und meint „Kälber im Schnee“ und „Züne abelege.“ Anneli fragt ihn, was er gerade tue. „Vieh uselah“ stammelt der Mann und lacht mit seinem breitem Mund. „Aber doch nicht jetzt“ erwidert Anneli und begleitet uns in den Käsekeller. Dort stösst ihr Mann Louis zu uns.
Zu Viert reden wir über Bezau, die Besucher, über die Einheimischen und die Verstorbenen. Ja, der Sonnenwirt hat den Betrieb seinem Sohn übergeben. Das Appartement-Haus wird gerade saniert…… Obwohl einige Kilometer vom Dorf entfernt, scheinen Anneli und Louis über alles bestens informiert. Die Uhrzeiger scheinen sich hier langsamer zu drehen. Die Zeit steht fast still. Minuten werden als Tage oder Wochen wahrgenommen. Zeitlicher Stress ist ein Fremdwort. Wenn es heute nicht gemacht wird, dann morgen. Der Käse wird noch heute geschnitten und verpackt. Ein qualitativ hochstehendes Schnäppchen von der herbstlichen Voralp.
Diese heile Welt ist gut für unsere Körper und Seelen. Hier finden wir Ausgleich in der Natur und bei bodenständigen Leuten. Hier werden wir entschleunigt von der Hektik unseres Berufslebens. Hier lassen wir los und vergessen unsere täglichen Bürosorgen für ein paar Tage. Erholung pur im Bregenzerwald. Und wenn wir nach Bern fahren, dann nehmen wir ein Stück Bezau und Alpe Fegg mit nach Hause. So lautet wenigstens der Vorsatz.
Hell-dunkel, aufwärts-abwärts

Nun führt das nur für vierradbetriebene Fahrzeuge geeignete Strässchen steil durch den Wald. Der Kies ist glitschig, die Bäume feucht, die Szenerie unheimlich und kalt. Dann folgen auf dunkle Tannen farbige Laubbäume. Langsam beginnt das Licht durch die Äste zu funkeln. Irgendwo, weiter oben, muss die Sonne sein. Nach einer Weggabelung verlassen wir den Wald und sehen erste Weiden. Blauer Himmel, Sonnenstrahlen, das dunkle Strässchen werden plötzlich hellgrau. Da prallt uns die Sonne voll ins Gesicht und lässt uns die Sonnenbrillen zücken. Innerhalb von Minuten wird es wärmer. Die dicken Jacken und Pullis verschwinden in den Rucksäcken.
Der Weg führt noch immer steil nach oben, macht Kurven und Windungen. Doch dank der Sonne und dem Licht sind die Strapazen leichter zu ertragen. Das Ziel, die alte Jagdhütte vor Augen, setzen wir Fuss vor Fuss und hängen den Gedanken nach. Ja, eine Wanderung durch den Bregenzer Herbstwald ist wie der Gang durch das Leben: Aus dem Dunkeln kommt man ans Licht, langsam geht es nach oben. Farben wechseln, Höhenflüge folgen auf Tiefschläge….. und umgekehrt…. Nie wird es einem langweilig. Nie sollte man aufgeben. Geduld und Ausdauer sind die besten Berater. Denn das Ziel lockt, und mag der Weg noch so hart und fordernd sein: Es lohnt sich weiterzugehen.
Kurz nach Mittag biegen wir auf dem Vorplatz der Biberacher Hütte ein. Wir befinden uns auf dem 1846 Meter hohen Schadonapass. Der Brunnen plätschert, die Tür ist zwar verschlossen, aber die grosse Bank vor dem Haus lockt zum Verweilen ein. Ein erstes Ziel haben wir erreicht. Der Ausblick ins alte Walsertal, über dem ein Nebelmeer hängt, kompensiert die durchgemachten Strapazen. Hier, in der Stille, an der Sonne, geniessen wir unsere Brötchen und den lauwarmen Münzentee. Fragen gehen uns durch den Kopf: Warum stressen wir uns im Alltag dermassen, es ginge ja auch anders? Weshalb verbeissen wir uns in die Arbeit, obwohl diese von unseren Vorgesetzten gar nicht geschätzt wird? Lohnt es sich zu kämpfen und sich für das Team aufzuopfern? Oder schaut man besser nur für sich selber?
Auf dem Abstieg finden wir dann auch noch das zweite Tagesziel, die Schadona-Jagdhütte auf der unteren Alp. Sie ist zwar inzwischen erneuert und ersetzt worden, aber die Umgebung bleibt dieselbe: Die hohe Felswand, die Murmeltiere und der Brunnen vor der Holzlaube. Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit, Erinnerungen an wunderschöne Tage mit der Familie, Tage, die damals hart schienen, heute, aus der Post-Perspektive, aber als Highlight der Jugendjahre, gesehen und verstanden werden müssen. Ein wunderschöner Sonnenuntergang rundet den emotional aufwühlenden Tag ab.
Holz, Kühe und Touristen

Fährt man der Bregenzerach entlang, dann kommt man an vielen Sägereien, Sägewerken und Holzfabriken vorbei. Hier werden die geschlagenen Bregenzerwald-Bäume verarbeitet. Das Holz ist massiv, die Tische und Stühle auch. Der gepflegte Wald schafft hunderte von Arbeitsplätzen. Was nicht verarbeitet wird, kommt in den Kamin, der die Ofenbank, ja das ganze Haus heizt.
Auf den Weiden grasen glückliche Kühe, Rinder, Kälber und Schafe. Es ist eine Pracht, dem Vieh beim Fressen zuzusehen. Glocken sorgen für das friedliche Geläut. Kühe geben Milch. Diese wird in den Alphütten, Käsereien und auf den Höfen verarbeitet. U.a. auch zu Käse. Der Bregenzerwald-Bergkäse ist chüschtig und deshalb berühmt. Auch wenn es mit der Landwirtschaft runter geht, werden die Sennen und Bauern hier gebraucht. Wer würde sonst die Alpen, die Wiesen, Weiden und Felder pflegen? Wer würde Käse produzieren, der von Einheimischen wie Fremden gerne genossen und sehr geschätzt wird?
Tourismus ist im Bregenzerwald das dritte Standbein. Hotels, Appartementhäuser, Herbergen, Bergbahnen, Bäder ja sogar ein Kloster buhlen um die Gunst von zahlenden Touristen. Wandernd lassen sich die Schönheiten der Täler besonders gut erkunden. Beschilderte Wege führen über die Alpen, vorbei an schroffen Bergen, durch Kräutergärten und über Holzbrücken. Im Winter locken breite Abfahrten und geschickt angelegte Loipen die Wintersportler ins Tal. Im Moment bereiten sich die Seilbähnler und Skilift-Experten grad auf die Wintersaison vor. An den meisten Liften werden Unterhaltsarbeiten getätigt, Seile ausgewechselt, Bügel ersetzt und Kabinen geputzt. In zwei Monaten ist hier alles weiss, dann beginnt die Wintersaison. Vielleicht kommen wir dann wieder.
Gesamtblick

Über die Krete geht es zurück Richtung Baumgartnerhöhe. Rechts Vorarlberg mit den vielen Tälern. Links die Schweizer Grenze mit den Churfirsten und dem Säntismassiv. Tief unten im Nebelmeer Bregenz und der Bodensee. Hier oben hat man den Blick auf das Ganze, sieht die Bergspitzen, Gipfel und Täler, erahnt die Seen und Strassen, ist den Menschen fern und doch so nah. Aus der Distanz lässt sich besser betrachten, überlegen, analysieren. Wir brauchen den Überblick, die Distanz, denn Nähe macht blind.
Zum Lunch haben wir uns auf dem Bergrücken vor einer wassergefüllten Doline niedergelassen. Die Aussicht ist unverändert einmalig, obwohl von Süden her erste Ziruswolken aufziehen. Zielstrebig marschieren Wanderer an uns vorbei. Plötzlich hören wir von weitem breitestes Züridütsch. Eine Blondine, offenbar die Mutter, ist mit drei Jugendlichen (alles Buben) im Anmarsch. Direkt neben uns macht das Quartett Halt. „Fotosession“, befielt die Mutter. „Ich muss doch zeigen können, dass ich in den Ferien war.“ Einer der Söhne stellt sich etwas ungeschickt an. „Sag mir, bevor du abdrückst“, lautet die Order der Mutter. „Ich möchte ja lachen auf dem Foto.“
Nach der Aufnahme geht die Wichtigtuerei weiter: „Geh nicht so nahe zum Abgrund. Wir wollen auf den Rundweg und nicht Euch zusammenputzen,“ zischt die Frau. Dann verteilt sie Traubenzucker, damit die Jungmannschaft den Marsch unbeschadet übersteht. Gehorsam zotteln sie von dannen. Zwei Stunden später treffen wir das Quartett wieder im Bergrestaurant. Dort verdrücken sie Bratwurst, Fleischkäs und Pommes. Immer noch gleich laut wie auf dem Bergrücken. Kommt mir ein Witz zum Thema in den Sinn: Wie geht ein Zürcher ins Bett? Zuerst legt er sein Mundwerk rein und schaut, ob er selber auch noch Platz hat.
Abgängig

In Gedanken versunken marschieren wir durch den Nebel Richtung Kanisalpe. Harte Fragen rasen durch unsere Gehirne: Ist der Rentner während einer Bergwanderung abgestürzt? Hat er sich im Nebel verirrt? Ist er möglicherweise freiwillig auf aus dem Leben geschieden? Wie alt ist der Aushang? Seit wann wird der Mann vermisst?
Verlegen schauen wir die Abhänge hinunter. Was wäre, wenn wir plötzlich eine gelbe Wanderjacke entdeckten? Ist es denkbar, dass wir auf unserer Wanderung auf einen Toten treffen? Wie würden wir reagieren?
Der Berggasthof auf der Wurzachalpe ist heute morgen geschlossen. Vor der vernebelten Sonnenterrasse beraten wir die weiteren Ziele des Ausflugs. Aus der Ferne hören wir plötzlich stimmen. Da taucht aus dem Nebel eine etwa 10köpfige Wandergruppe auf, die ebenfalls vergeblich in die trockene Gaststube eingelassen werden möchte. Vor der verschlossenen Türe kommen wir ins Gespräch. „Wir sind auf der Suche nach einem vermissten Bergkameraden“, erzählt der Anführer der Gruppe. Von ihm erfahren wir, dass der Gesuchte Siegfried heisst und seit dem letzten Donnerstag vermisst wird. Die Wandergruppe des Deutschen Alpenvereins DAV habe deshalb beschlossen, heute im Gebiet der Kanisfluh nach Siegfried zu suchen.

Nach den interessanten Ausführungen setzen wir den Marsch fort. Plötzlich lichtet sich der Nebel. Wir stehen vor der Wand, der Fluh. Hat sie Siegfried verschlungen? Über einen Zick-Zack-Pfad geht es nach oben. Schritt um Schritt, auf sichere Tritte wird geachtet. In einer Einerkolonne bewegen wir uns dem Gipfel entgegen. Die Sonne vermag unsere Gesichter und Hände erwärmen. Unsere Seelen hängen durch, sind traurig. Ein mulmiges Gefühl liegt allen auf dem Magen: Das Schicksal des vermissten Siegfried beschäftigt uns. Ist er tot? Wo liegt sein Körper? Wird er noch vor Wintereinbruch gefunden? Wohl kaum, denn bereits am Wochenende wird Schnee bis auf 1000 Meter hinunter erwartet.
Saloberkopf

Drei Bergdolen kreisen über unsere Köpfen. Die hingeworfenen Brosamen verschmähen sie. Die Bergluft ist frisch, die Temperaturen sinken in der Nacht unter den Gefrierpunkt. Davon zeugt die dünne Eisschicht auf den Tümpeln und Dolen der Umgebung.
Noch sind die Weiden grün. Der letzte Mist an der Bergstation dampft noch, die Kühe dürften vor nicht allzulanger Zeit abgefahren sein. In einer Mulde suchen wir unseren Picknickplatz und lassen uns von der Herbstsonne wärmen. Über die Krete zieht eine eisige Bise. Man spürt es: Der Herbst geht zu Ende, der Winter steht vor der Tür. Für uns ist die Zeit gekommen, vom Bregenzerwald Abschied zu nehmen. Nur ungern fahren wir in den Nebel hinunter, der von grauen Novembertagen abgelöst werden wird.
Change - Veränderung

Change ist immer ein Aufbruch, eine Fahrt in eine ungewisse Zukunft. Change bringt aber auch neue Ideen, Motivation und positive Gefühle. Nach dem Nebel kommt der blaue Himmel wieder einmal. Nach dem Regen wird die Sonne wieder scheinen. Auf den Winter folgt ein neuer Frühling. Um vorwärts zu kommen, braucht es Veränderungen……. Gegen 19.30 Uhr fahren wir in Bern vor. Es war schön im Bregenzerwald. Nun hat uns der Berner Alltag wieder.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen